,,Selbstverwirklichung“
ist immer dann ein fatales Wort, wenn damit der Andere als Konkurrent
und als Beschränkung der eigenen Freiheit aufgefasst wird. In
Wirklichkeit kommt der Mensch in dem Maß zur Verwirklichung seiner
selbst, in dem er sich gibt. „Wer sich selbst retten will, verliert
sich; wer sich verliert ..., der rettet sich“ heißt daher ein
zentrales und urmenschliches Wort Jesu (Mk 9,35). Nur am Du und durch
das Du kann ich zu mir selber kommen, aber nicht, indem ich die Läden
herunterlasse und möglichst nichts von meinem Leben preisgeben will.
Es ist wie mit dem Gleichnis von den Talenten: Durch Ausgeben wachsen
sie; der, der sie vergrub, hatte seine Möglichkeit vertan (vgl. Mk
25,14–30). Deswegen ist die Hingabe an einen Menschen, die Treue zu
ihm, nicht Gegensatz zur Freiheit, sondern erst ihr wirklicher
Anfang. Die höchste Möglichkeit der Freiheit ist die Fähigkeit,
sich zu entscheiden, die Fähigkeit zum Endgültigen. Wer in seinem
Leben das Endgültige nicht wagt, lässt seine Freiheit als totes
Kapital liegen und versäumt die Möglichkeit zu reifen, die nur aus
der Kraft des Endgültigen kommt. Nur Liebe, die sich dem anderen
ganz gibt – ,,bis dass der Tod euch scheidet“ – und dies
durchsteht, ist dem inneren Anspruch der Liebe und damit des
Menschseins gemäß.
Kardinal Ratzinger, 1980