Es ist mit der Sinn der Adventszeit im Kirchenjahr, dass sie uns dieses Bewusstsein wieder lebendig macht. Sie soll uns dazu nötigen, dass wir uns diesen Tatsachen stellen, dass wir zugeben das Ausmaß von Unerlöstheit, das nicht nur irgendwann über der Welt lag und irgendwo vielleicht noch liegt, sondern bei uns selbst und inmitten der Kirche Tatsache ist. Mir scheint, dass wir hier nicht selten einer gewissen Gefahr erliegen: Wir wollen derlei nicht sehen; wir leben sozusagen mit abgeblendeten Lichtern, weil wir fürchten, dass unser Glaube das volle, grelle Licht der Tatsachen nicht vertragen könnte. So schirmen wir uns dagegen ab und klammern sie aus dem Bewusstsein aus, um nicht zu Fall zu kommen. Aber ein Glaube, der sich die Hälfte der Tatsachen oder noch mehr nicht eingesteht, ist im Grunde schon eine Form von Glaubensverweigerung oder mindestens eine sehr tief gehende Form von Kleingläubigkeit, die Angst hat, der Glaube sei der Wirklichkeit nicht gewachsen. Sie wagt nicht anzunehmen, dass er die Kraft ist, die die Welt überwindet. Wahrhaft glauben heißt demgegenüber, ungescheut und offenen Herzens dem Ganzen der Wirklichkeit ins Angesicht schauen, auch wenn es gegen das Bild steht, das wir uns aus irgendeinem Grunde vom Glauben machen. Zur christlichen Existenz gehört deshalb auch dies, dass wir aus der Anfechtung unseres Dunkels heraus wie der Mensch Job mit Gott zu reden wagen. Es gehört dazu, dass wir nicht meinen, vor Gott nur die Hälfte unseres Daseins darbieten zu können und ihm das Übrige ersparen zu müssen, weil wir ihn vielleicht verdrießlich machen könnten damit. Nein – gerade vor ihn dürfen und müssen wir die ganze Last unserer Existenz in voller Wahrhaftigkeit hinstellen. Wir vergessen ein wenig zu sehr, dass in dem Buche Job, das uns die Heilige Schrift überliefert, Gott am Ende des Dramas den Job als gerecht erklärt: ihn, der die ungeheuerlichsten Anklagen Gott entgegengeschleudert hat, während er Jobs Freunde als falsch Redende zurückweist, jene Freunde, die Gott verteidigt hatten und auf alles irgendeinen schönen Reim und eine Antwort gefunden hatten.
Advent begehen heißt nichts anderes als mit Gott reden, wie Job es getan. Es heißt, einmal die ganze Wirklichkeit und Last unserer christlichen Existenz ungescheut sehen und sie vor Gottes richtendes und rettendes Angesicht hinstellen, auch dann, wenn wir wie Job keine Antwort darauf zu geben haben, sondern das Einzige bleibt, Gott selbst die Antwort zu lassen und ihm zu sagen, wie wir antwortlos in unserem Dunkel stehen.
Vom Sinn des Christseins. Drei Predigten, München 1965, 16–18.
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