… Es gibt auch die wahnsinnig Normalen. Es gibt diese öden blassen Gestalten, an die man sich partout nicht erinnern kann, obwohl sie einem im Zug stundenlang gegenübergesessen haben. Diese grauen Mäuse unserer Normalgesellschaft, deren Motto ist: Bloß nicht auffallen! In der Schule waren sie gut bis mittelmäßig, etwas streberartig, aber nur so sehr, dass die Klassenkameraden sich nicht herausgefordert fühlten. In der Pubertät klebten sie dem Lehrer Kaugummis auf den Stuhl - ohne es irgendjemandem zu sagen, damit sie nicht erwischt wurden. Im örtlichen Waschsalon fanden sie ihre Frau fürs Leben, der Sauberkeit über alles ging, porentiefe Sauberkeit natürlich. Sie wurden Buchhalter in der Finanzverwaltung und widerstanden ihrem Bedürfnis, Ärmelschoner zu tragen, nur, um damit nicht aufzufallen. Ihre Kleidung wählten sie stets so, wie es sich für den gepflegten Herrn gehört: Mann ist dann gut angezogen, wenn sich keiner später mehr erinnern kann, was er anhatte. Auch ihre Meinungen liegen stets im Trend. Ein bisschen kritisch, aber nicht allzu viel. Sie sterben unspektakulär am Herzinfarkt, wie die meisten ihrer Freunde, und auf dem Grabstein steht: Er lebte still und unscheinbar, er starb, weil es so üblich war. - Damit liegen sie sogar als Leiche noch total im Trend. Solche Menschen hätten nie die Chance, in eine Psychiatrie eingeliefert zu werden. Sie böten bei allen psychologischen Tests den ultimativen Normalbefund. Von außen ist man nicht immer sicher, ob sie überhaupt leben, und wenn ja, wie? Wahrscheinlich aber leben sie doch irgendwie, man merkt es nur nicht.
Wir
wollen solch wahnsinnig Normale nicht verachten. Sie sind schließlich
der Kitt unserer Gesellschaft. Sie sind die Existenzbedingung jeder
Straßenverkehrsordnung. Sie sind die Freude aller Statistiker, die
nichts so sehr hassen wie statistische Ausreißer. Die wahnsinnig
Normalen sind das Passepartout, damit sich alle Außergewöhnlichen
auch wirklich außergewöhnlich fühlen können.
Doch
gibt es da ein Problem mit diesen Normalen. Sie mögen die anderen
nicht. Sie hassen all die Bunten, die Schrillen, die Lauten. Es macht
sie wütend, dass da immer wieder diese regellosen Chaoten sind, die
falsch parken, die Höchstgeschwindigkeit überschreiten und auf der
Autobahn zu lange links fahren. Nie würde es ihnen einfallen, mit
solchen Leuten zu reden. Aber wenn das Fass überläuft, dann bricht
es aus ihnen heraus, dann kann ein braver Bürger zur Furie werden,
dann brüllt er los in ge- rechtem Zorn. Der Psychotherapeut Paul
Watzlawick hat die Mühseligkeiten eines solchen Lebens in der
berühmten Geschichte vom Hammer geschildert: Ein Mann möchte ein
Bild aufhängen und stellt fest, dass er über keinen Hammer verfügt.
Da überlegt er, ob er nicht den Nachbarn nach einem Hammer fragen
soll. Doch dieser merkwürdige Mensch ist immer so einsilbig,
möglicherweise hochnäsig, arrogant, egoistisch, vielleicht sogar
ein so abgefeimter Charakter, dass er zwar einen Hammer besitzt, ihn
aber nicht herausgibt. Unglaublich so etwas, eine Frechheit, eine
bodenlose Unverschämtheit! Und so schellt er an der Tür des ihm
völlig unbekannten Nachbarn und brüllt dem verblüfften
Mann
mit hochrotem Kopf ins Gesicht: Behalten Sie Ihren Hammer!
Wahnsinnig
Normale sind zwar normal, aber sie können unberechenbar sein.
Neulich hat ein Mann in einer Kleingartenanlage, der sich wegen
Lappalien immer wieder mit seinen Nachbarn stritt, eine dreiköpfige
Nachbarsfamilie kurzerhand erschlagen. Alles spricht dafür, dass
dieser Mann wahnsinnig normal war.
Wer
kein Blut sehen kann und deswegen seinen Nachbarn nicht gleich
erschlagen will, der kann ihn heutzutage geistig fertigmachen. Im
Zeitalter der political correctness wurde der Pranger wieder
eingeführt. Am mittelalterlichen Pranger wurden Menschen auf einem
öffentlichen Platz zur Strafe zur Schau gestellt mit einem Schild,
auf dem ihr Vergehen genannt wurde. Man hält das heute für eine
eklatante Verletzung der Menschenwürde. Doch zugleich hegt man
keinerlei Bedenken, einen Menschen wegen einer nicht korrekten
öffentlichen Äußerung in allen Medien der Lächerlichkeit und
Verachtung preiszugeben. Am Pranger stand man im Mittelalter an einem
bestimmten Ort nur für einige Stunden. Die Opfer der political
correctness bekommen in der Regel lebenslang, und das überall. Denn
über die elektronischen Medien wirkt eine öffentliche
Diskreditierung weltweit und hat fast schon Ewigkeitscharakter. Man
gewinnt den Eindruck, die Menschheit habe ein ebenso natürliches wie
unstillbares, tiefliegendes Bedürfnis nach Inquisition. Und da die
Kirche mit derlei Institutionen nicht mehr aufzuwarten hat, haben wir
die Inquisition demokratisiert. Jeder kann jeden zum abgefeimten
Teufelsbraten, zur widerlichen Höllenbrut, zum unbelehrbaren Ketzer
erklären. Neuere Forschungen haben ergeben, dass die wirkliche
Inquisition nach strengen Regeln und somit erheblich zurückhaltender
vorging, als es ihr monströser Ruf wahrhaben will. Vielfach verstand
die Inquisition es als ihre Aufgabe, Opfern eines diffusen Volkszorns
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hexenverfolgungen gab es nur in
den Gegenden, wo die Inquisition nicht funktionierte, also nicht in
Spanien, sondern in Deutschland. Doch heute gibt es für Opfer der
political correctness keinen Gerichtshof, an dem sie sich verteidigen
könnten. All die wahnsinnig Normalen pochen unerbittlich darauf,
dass alle, wirklich alle, das sagen, was alle sagen, dass sie also
normal reden. Und was normal ist, das bestimmen sie selbst, die
wahnsinnig Normalen.
Manfred Lütz
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