Barmherzigkeit ... fällt uns heute vielleicht deshalb so schwer, weil ihr, sofern sie
echt im christlichen Sinne ist, die Einsicht korrespondiert, dass der
Mensch ein „erbärmliches“ Wesen ist. Und dies nicht in abstrakter Weise –
nein: Ich bin erbärmlich, Du bist erbärmlich und unsere Nächsten sind
es auch; wir alle, die wir uns an der öffentlichen Exekution eines
„Großkopferten“ delektieren. ...
Wir betrügen das Gemeinwesen und wir brechen die Ehe, wir lügen und
reden schlecht über unseren Nächsten. Niemand würde es überstehen, wenn
sein Leben unter dem Licht der Fernsehscheinwerfer moralisch seziert
würde. Wir alle sind erbärmlich und bedürfen der Barmherzigkeit; der
Barmherzigkeit des gekreuzigten Gottessohnes und der Barmherzigkeit
unserer Mitmenschen.
Die Gnadenlosigkeit so mancher öffentlicher Hatz ist wohl nur die
Kehrseite dieser Verdrängung und diese Verdrängung ein Charakteristikum
unserer Gesellschaft, die keine christliche mehr sein will und keine
christliche mehr werden kann, solange die Einsicht in unsere
individuelle Erbärmlichkeit nicht wieder Teil unseres öffentlichen
Bewußtseins wird.
Quelle
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