Und in wie vielen Geistern kommt es weder zum Erwachen noch zum Absterben, sondern "Kirche" ist und bleibt das unverstandene, durch die Taufe "zufällig" auferlegte Joch, das aus Gewohnheit weitergeschleppt oder eine Tages "verloren" wird, ohne jemals innerlich bejaht zu werden ...
Wir meinen: der Gläubige hat in solcher Begegnung - und ist sie nicht ein Teil des immerwährenden Gespräches, das sich durch die ganze Breite unseres Volkes hin abspielt? - die Nöte und Schwierigkeiten jener Verwirrten und Angefochtenen zunächst zu hören, aufzunehmen, ernst zu nehmen, auszusprechen und zu vertreten: nicht zuerst aus pädagogischen, gar aus taktischen Überlegungen, sondern aus Verpflichtung brüderlicher Liebe, welche das fremde Anliegen als das eigene erkennt. Wer soll denn "die andern" verstehen, wenn nicht wir? Etwa die Schadenfrohen, die Hämischen, alle, die Überläufer brauchen, alle, denen am Sterben des Glaubens etwas gelegen ist? Zu wem gehören die Verstörten, wenn nicht zu uns? Wer soll "schwach werden, wenn sie schwach werden", wenn nicht wir? Wer soll " brennen, wenn sie Ärgernis erleiden", wenn nicht wir? Sie sollen wissen, daß das sachliche Gewicht ihrer traurigen Erfahrungen gerade von den gläubigen und kirchentreuen Brüdern aufgefangen und anerkannt und mitgelitten und in die eigene Verantwortung eingeschlossen wird, nicht trotzdem wir katholisch, sondern weil wir es sind. Weil auch wir, die Gläubigen, dem "immerwährenden Gespräch" garnicht entrinnen können, selbst wenn wir es möchten; weil wir ihm standhalten müssen, immer aufs neue, alle Anfechtungen des Zeitgeistes auch im gläubigen Herzen austragen und mitleiden müssen. Vielleicht sagen etliche unserer behüteten und frömmeren Brüder: weil auch wir angekränkelt sind; sei es - wir meinen, daß wir die Wirklichkeit und Mächtigkeit des "Zeitgeistes" auf Schritt und Tritt erleben (- selbst wo wir wissen, daß dahinter Trug und Schein stehen -), weil wir lebendige Glieder eines kämpfenden, bedrängten Ganzen sind.
Ida Friederike Görres (1947)
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