... wenn Gerechtigkeit die höchste unter den natürlich-sittlichen Vollkommenheiten des Menschen ist, dann muß Ungerechtigkeit der schlimmste Verderb des sittlichen Menschen sein. Corruptio optimi pessima; wenn das Beste verdirbt, dann ist es am schlimmsten! Diese Kehrseite der Münze erst offenbart die Aktualität, die der Lehre vom Vorrang der Gerechtigkeit innewohnt; ich würde sogar sagen, es ist eine einigermaßen unheimliche Aktualität. – Die christlich-abendländische Vorstellung von der Geschichte (sie aber ist das eigentliche Feld von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit) – diese Geschichtsvorstellung besagt ja, daß es, innerzeitlich betrachtet, nicht einfachhin mit einem Sieg der Vernunft, des Guten, der Gerechtigkeit ausgehen werde, daß vielmehr am Ende der zeitlich-irdischen Geschichte so etwas wie die Weltherrschaft des Bösen stehe. Dieser »Böse« aber, der Antichrist, der homo peccati, wird gedacht als die Verkörperung äußerster Ungerechtigkeit und zugleich als ein großer Asket und Heroe. Wer sich nicht damit vertraut gemacht hat, daß und warum der gute Mensch primär gerecht ist und also der böse primär ungerecht, das heißt, wer die Einsicht in die Rangordnung unter den Tugenden nicht zu eigen gewonnen hat, der muß durch die Erfahrungen, die sich in solchen Visionen ankündigen, notwendig in eine kaum zu bewältigende Verwirrung gestürzt werden. Vor allem wird er unfähig sein, die geschichtlichen Voraus-Figuren jenes Endzustandes überhaupt zu erkennen; er wird in völlig falscher Blickrichtung Ausschau halten nach den Mächten des Verderbens – und inzwischen richten sie vor seinen Augen ihre Herrschaft auf!
Josef Pieper: Gerechtigkeit - heute (1973)
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