"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

19. April 2012

Gegentag der Geschichte

Gegentag der Geschichte. – Das Wort von der »größeren, verlängerten Tageform oder dem Gegentag der dunkleren Geschichte – dieser ihrer göttlichen gethsemanischen Nachtwache gegen die Natur« aus dem Christlichen Epimetheus ist nur schwer in seinem vollen Gewicht zu fassen; man muß es buchstabieren.

Die »verlängerte Tageform« läßt, als Gegenbild des kurzfristigen Tages, auf den die »politische Neugier« blickt, an die tausend Jahre denken, die vor Gott sind wie ein Tag. Diese verlängerte Tageform begreift in sich auch den Gegentag, sozusagen die Nacht der dunkleren Geschichte; jene Nacht, in der sich vollzieht, was dem scheinbar rational Faßbaren des »Tages«-Geschehens     (»Entwicklung«, »Fortschritt usw.) als ein Widerpart zugeordnet ist. Wenn man die Geschichte auf die heilige Geschichte bezieht, so kann man vielleicht sagen: wie der Tagesseite der Menschwerdung des Logos die Nachtseite von Christi Leiden und Tod zugeordnet ist und wie diese Nachtseite des Leidens und Todes dem »natürlichen« Gang der Dinge, so wie der »natürliche« Mensch ihn versteht und will, entgegen ist, so auch ist die Nacht der Geschichte dem idealistischen Versuch des Begreifens und des Ausdeutens entzogen. Und wie in Christi Tod und Leiden das Eigentliche der Menschwerdung geschah – gegen die »Natur« –, so auch geschieht in der Geschichte überhaupt die Vollendung ihres »Tages«-Geschehens unter dem verhüllenden Schleier der Nacht – und gleichfalls »gegen die Natur«. Dies Letzte kann vieles bedeuten: es kann bedeuten, daß die Rettung (die ja nach Konrad Weiß »der gegen jeden Zugriff entscheidende Sinn der Geschichte« ist) sich unter dem Anschein des Verderbens und des Unterganges begibt – spes contra spem. Es kann auch bedeuten, daß die Geschichte, als dem Menschen zugehörig, ebenso wie der Mensch selbst, nicht in dem naiv und eigensinnig »Naturgemäßen« ihre Vollendung finden kann, daß vielmehr gerade ihre großen Aufschwünge alles Naturgemäße und damit alles Vorhersehbare durchkreuzen.
                                                                                                                        (1943) Josef Pieper

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