"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

18. Oktober 2012

Zürnkraft


Just im Hinblick auf die Überwindung der Zuchtlosigkeit des Genießens gewinnt übrigens die Kraft des Zürnens ein besonderes Gewicht.
Zwar sagt auch Thomas, daß eine akute Versuchung zur Unkeuschheit am ehesten durch Flucht zu besiegen sei [II, II, 35, 1 ad 4]. Aber er weiß auch, daß der Süchtigkeit eines entarteten Genußwillens durch bloße Verneinung, durch krampfhaftes »Nicht-daran-Denken« keineswegs beizukommen ist. Thomas ist der Meinung, Bejahung müsse stärker sein als Verneinung. Er ist der Meinung, daß die Entartung einer Seelenkraft von dem noch unversehrten Kern einer anderen Kraft her müsse geheilt werden können. So müsse es möglich sein, die schlappe Zuchtlosigkeit eines unkeuschen Genußwillens dadurch zu überwinden und sozusagen auszulöschen, daß eine harte Aufgabe mit der Widerstandsfreudigkeit der vollen Zürnkraft angegriffen werde [Ver. 24, 10].
Erst die Verbindung der Zuchtlosigkeit des Genießenwollens mit der faulen Unkraft zu zürnen ist das Kenn-Mal völliger und eigentlich hoffnungsloser Entartung. Sie zeigt sich, wo immer eine Gesellschaftsschicht, ein Volk, eine Kultur reif ist zum Untergang. 

Josef Pieper: Zucht und Maß, S. 189

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