"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

7. Januar 2016

René Girard: GEWALT UND GEGENSEITIGKEIT

1923-2015
Um die gegenwärtige Geschichte zu verstehen, müssen wir zuerst ebenso in unser Inneres schauen, wie wir unsere Umgebung beobachten. Unsere Welt ist in allen Bereichen auf den Wettbewerb, auf fieberhaften Ehrgeiz ausgerichtet. Jeden von uns beeinflußt dieser Geist, der an sich nichts Schlechtes hat. Der Wettbewerbsgeist, der bei den Beziehungen innerhalb der herrschenden Klassen seit langem überwiegt, hat sich in der gesamten Gesellschaft verbreitet, und in unseren Tagen triumphiert er mehr oder weniger offen in der ganzen Welt. In den westlichen Nationen und vor allem in den Vereinigten Staaten belebt er nicht nur das Wirtschaftsleben und das Finanzsystem,sondern auch die Forschung und das Geistesleben. Trotz der Spannung und Unruhe, die er überall herrschen läßt, schätzen sich die Menschen des Westens im großen und ganzen glücklich, daß sie sich zu ihm bekannt haben, denn er wirkt sich sehr positiv aus, was zuallererst für den beispiellosen Reichtum eines bedeutenden Teils der Bevölkerung gilt. Niemand oder fast niemand denkt mehr daran, auf ihn zu verzichten, denn er ermöglicht es, von einer Zukunft zu träumen, die noch glanzvoller und erfolgreicher als die unmittelbare Vergangenheit sein wird. Unsere Welt erscheint uns als die erstrebenswerteste aller Zeiten, vor allem, wenn wir sie mit jenen Weltregionen vergleichen, die nicht denselben Aufschwung erleben.

Dennoch gibt es in der gegenwärtigen Situation etwas Negatives und Furchterregendes, und das empfinden selbst diejenigen, die den größten Nutzen aus ihr ziehen: Es geht um die vorwiegend untergründige, jedoch unzweifelhafte Faszination, die "das westliche Modell" auf die Massen der Elenden in der Dritten Welt ausübt. Die meisten souveränen Staaten sind zu weit zurückgeblieben, als daß sie sich wirksam am internationalen Wettbewerb beteiligen könnten.


Beide Seiten führen urväterliche Traditionen an, wenn sie Erscheinungen erklären wollen, die im Gegenteil und ganz offensichtlich vom Verlust dieser Traditionen bewirkt werden, und für diesen Verlust hat sich bisher nicht der geringste Ausgleich gefunden. Der Haß auf den Westen und auf alles, was er darstellt, beruht nicht darauf, daß sein Geist jenen Völkern wirklich fremd ist und daß sie sich tatsächlich gegen den "Fortschritt" wehren, den hingegen wir verkörpern würden, sondern darauf, daß ihnen der Wettbewerbsgeist ebenso vertraut wie uns selbst ist. Sie wenden sich gar nicht wahrhaftig vom Westen ab, sie können es sich nicht versagen, ihn nachzuahmen, seine Werte zu übernehmen, ohne es sich selber einzugestehen, und ebenso wie wir werden sie von der Ideologie des persönlichen oder gemeinschaftlichen Erfolgs angestachelt.


Diese auf der Rivalität beruhende Konzeption, die unser Vorbild der ganzen Welt aufzwingt, kann uns nicht zu Siegern machen, ohne daß sie anderswo zu unzähligen Besiegten, unzähligen Opfern führt. Deshalb darf man sich nicht wundern, wenn diese Ideologie in der Dritten Welt völlig andere Reaktionen als bei den Siegern hervorruft. Vor allem weckt sie das inbrünstige Verlangen, ein für allemal jene Kraft zu vernichten, die an der persönlichen und nationalen Niederlage schuld ist, jene gewaltige Konkurrenzmaschine, zu der sich die Vereinigten Staaten, unmittelbar gefolgt vom gesamten übrigen Westen, entwickelt haben.
Die Menschen unterliegen der ansteckenden Wirkung der Gewalt, die oft zu Rachezyklen führt, zu einer Kettenreaktion von Gewalttaten, die einander alle ganz offensichtlich gleichen, weil sie sich gegenseitig nachahmen. Darum sage ich: Das wahre Geheimnis der Konflikte und Gewalttaten besteht in der begehrenden Nachahmung, dem mimetischen Begehren und den von ihm heraufbeschworenen erbitterten Rivalitäten.
Selbst wenn man anerkennt, daß die mimetische Rivalität zahlreiche Konflikte verursacht, kann man glauben, daß es andere konfliktträchtige Beziehungen gibt, denen das Begehren fehlt, und daß ich seine Rolle übertreibe, indem ich aus ihm die Hauptursache der menschlichen Konflikte mache. Man meint, ich verfalle den leichtfertigen Freuden des "Reduktionismus".


Es gibt viele - kleine und große - Konflikte, die anscheinend nichts mit dem Mimetismus und seinen Rivalitäten zu tun haben, denn in ihnen spielt das Begehren keine Rolle. Auch die am wenigsten leidenschaftlichen zwischenmenschlichen Beziehungen können von Gewalt geprägt werden. Wie ließen sich mit der von mir dargelegten Konzeption, der mimetischen Konzeption, solche Konflikte erklären, die offenbar zwischen Personen ausbrechen und sich beunruhigend schnell verschärfen, die kein gemeinsames Begehren trennt oder zusammenführt?


Nehmen wir, um auf diesen Einwand zu antworten, ein möglichst banales Beispiel: Sie strecken mir die Hand entgegen, und dafür halten ich Ihnen meine hin. Gemeinsam vollziehen wir den harmlosen Ritus des Händedrucks. Die Höflichkeit gebietet, daß ich Ihnen die Hand reiche, wenn Sie mir die Ihre hinhalten. Wie reagieren Sie, falls ich es aus irgendeinem Grund ablehne, an dem Ritus teilzunehmen, und mich weigere, Sie nachzuahmen? Sofort ziehen Sie die Hand zurück. Mir bezeigen Sie eine Distanz, die der von mir bekundeten wenigstens gleichkommt und sie wahrscheinlich noch etwas übertrifft.
Nichts ist normaler und natürlicher als diese Reaktion, meinen wir, und trotzdem entdeckt man ihr paradoxes Wesen, sobald man nur ein wenig nachdenkt. Wenn ich den Händedruck verweigere, wenn ich es im Grunde genommen ablehne, Sie nachzuahmen, so ahmen Sie mich nach, indem Sie meine Weigerung nachvollziehen und nachgestalten.


Die Nachahmung, die eine Übereinstimmung konkretisiert, erscheint sonderbarerweise wieder, um die Nichtübereinstimmung zu bestätigen und zu verstärken. Anders ausgedrückt: Die Nachahmung setzt sich aufs neue durch, und daran erkennt man klar, wie die doppelte Nachahmung alle zwischenmenschlichen Beziehungen streng und unerbittlich strukturiert.


In dem von mir dargestellten Fall wird der Nachahmer zum Modell und das Modell zum Nachahmer, und die Nachahmung entsteht von neuem aus den Bemühungen, sie abzulehnen. Kurz gesagt: Wenn der eine Partner den Staffelstab des Mimetismus fallen läßt, hebt ihn der andere auf, und zwar nicht, um die sich schon lösende Bindung zu erneuern, sondern um den Bruch zu vollenden, indem er ihn mimetisch verdoppelt. ...

Der menschliche Konflikt definiert sich nicht durch den Verlust der Gegenseitigkeit, sondern durch die zuerst unmerkliche und dann immer schnellere Verschiebung von der guten zur schlechten Gegenseitigkeit. Man nimmt diese Verschiebung kaum wahr, doch die geringste Unachtsamkeit, die kleinste Vergeßlichkeit können unsere Beziehungen dauerhaft beeinträchtigen. Die umgekehrte Bewegung von der schlechten zur guten Gegenseitigkeit verlangt hingegen große Aufmerksamkeit und Selbstverleugnung. Sie ist nicht immer möglich.


Beobachtern entgeht meistens die allgemeine doppelte Nachahmung. Die einzigen unter uns, die sich dessen im Alltagsleben bewußt werden, sind bestimmte "psychisch" gestörte Persönlichkeiten, die unter einer "beginnenden Psychose" leiden, wie Doktor Henri Grivois es nennt. Diese Leute, oft sind es Jugendliche, haben das Gefühl, ständig nachgeahmt zu werden, und manchmal empfinden sie sich auch als Nachahmer. Daß die meisten von uns nichts dergleichen bemerken und daß wir es auch nicht bemerken dürfen, um normal zu bleiben, ist ebenfalls sehr bedeutsam und sollte unsere Auffassungen vom Banalen und Originellen, vom Normalen und Anormalen ein wenig modifizieren. Das mechanische, unauffällige Wesen des Mimetismus in den normalsten Beziehungen bewirkt, daß diese Kranken, vor allem Leute, die verunsichert sind, weil man sie plötzlich aus ihrer gewohnten Umwelt gerissen hat, sich als Gegenstand allgemeiner mimetischer Aufmerksamkeit ansehen; sie halten sich also für den Mittelpunkt der Welt. Henri Grivois nennt das Zentralität. Wenn man psychisch normal bleiben will, ist es besser, sich wie alle zu verhalten und für die allgemeine Nachahmung blind zu sein.


Die doppelte Nachahmung ist folglich allgegenwärtig. Selbst in ihrer mechanischsten Form kann sie den gleichen Konflikttypus wie die auf dem mimetischen Begehren beruhende Rivalität hervorbringen. Durch eine unaufhörliche Folge von kleinen symmetrischen Abgrenzungen, von unmerklichen Komplikationen, die nur überwunden werden, um aufs neue zu entstehen, wird die Eintracht zu Zwietracht. Hauptursache ist die Tendenz, die vermeintliche Feindseligkeit des anderen zu überkompensieren und sie dabei weiter zu verstärken. Personen, die soeben noch Höflichkeiten austauschten, sind nun dabei, perfide Andeutungen auszutauschen. Bald werden sie Beleidigungen austauschen, dann Drohungen und sogar Faustschläge oder Revolverschüsse, und das alles, wie ich wiederholen möchte, ohne daß die Gegenseitigkeit beeinträchtigt wird.
Wenn die Gegner schließlich einander umbringen, so geschieht das in der Absicht, sich von der schlechten Gegenseitigkeit zu befreien, diesem unausrottbaren Unkraut, das nun in Form einer zyklischen, endlosen Rache erscheint. Die Rache kann sich über Generationen hinweg erhalten und über die ganze Welt ausbreiten. Sie überschreitet Raum und Zeit. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn die archaischen Völker sie für heilig halten.


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