In einer eindrücklichen Szene von Dorothy L. Sayers' Roman Aufruhr in Oxford haben Lord Peter Wimsey und Harriet Vane in einem Antiquitätenladen ein altes Spinett entdeckt und amüsieren sich, indem sie Bach spielen und Duette aus Madrigalen des sechzehnten Jahrhunderts singen. Bei dieser Gelegenheit, "nachdem Tenor und Alt sich zur letzten freundschaftlichen Kadenz umeinandergewunden hatten", spricht Peter einen Satz aus, der als eine der persönlichen Überzeugungen von Frau Sayers zum Thema "Liebe" gelten kann: "'Das . . . ist das wahre A und O der Musik. Harmonie kann haben, wer will, wenn er uns nur den Kontrapunkt läßt." Das ist nicht nur ein ästhetisches Urteil. Er impliziert damit erstens, dass es Unterschiede zwischen Menschen gibt – sogar geben muss. Zweitens sagt er, dass Unterschiede, wenn sie in geeigneter Weise zur Wirkung gebracht werden, zu einem polyphonen Zusammenklang führen, der viel mehr bringt als eine simpel‐gefällige Harmonie, in der einer der Partner dominiert und der andere sich anpassen muss.
Später, gegen Ende des Romans, fragt ihn Harriet nach der Bedeutung seines Epigramms: "'Peter, was haben Sie neulich gemeint, als Sie sagten, die Harmonie könne haben, wer wolle, wenn er uns nur den Kontrapunkt lasse?'" Seine Antwort ist ein wundervolles Beispiel für Hintersinnigkeit: "'Nun, . . . daß ich polyphone Musik über alles liebe. Wenn Sie glauben, daß ich etwas anderes gemeint habe, wissen Sie auch, was.'" Er erläutert seine Haltung mit einem Hinweis auf Johann Sebastian Bach: "'Ich gebe zu, daß Bach sich nicht für einen eigenwilligen Virtuosen und einen fügsamen Begleiter eignet. Aber möchten Sie eines von beiden sein? Jetzt kommt ein Herr und möchte uns ein paar Balladen vorsingen. Bitte Ruhe für den Solisten. Aber hoffentlich ist er bald fertig, damit wir die große, erhabene Fuge hören können.'"
.Die Fuge also. Sie gibt den verschiedenen Stimmen eines Satzes jeweils dieselben Rechte und Pflichten in der Verfolgung und Behauptung der Melodieführung, in Dominanz und Begleitung. Dieses Prinzip wird hörbar in Thomas Morleys Canzonets for Two Voices, die die beiden im Antiquitätenladen singen. Peter überlässt Harriet die Wahl der Stimme: "'Welche Stimme Sie wollen – sie sind genau gleich . . . .'" Vonnöten ist ein geschickter Melodieschöpfer und Arrangeur, der diese musikalischen Linien zusammenfügt, ein Schöpfer, der die charakteristischen Eigenschaften von Stimmen, Tonarten, Harmonien und Obertönen kennt. Ganz en passant hat Peter kurz zuvor einen Gedanken eingeschmuggelt, der über menschliche Schöpferkraft hinausweist, als er mitten in "Greensleeves" abbrach und erklärte: "'Falsche Tonlage für Sie. Gott hat Sie als Alt geschaffen.'"
Der Ursprung musikalischen Zusammenklangs – dieser uralten Metapher für emotionale Übereinstimmung und Verständnis zwischen Liebenden – kann also nach Sayers auf zwei Ebenen gefunden werden. Auf der einen Ebene ist dieser Zusammenklang Ergebnis der Arbeit eines menschlichen Komponisten. Auf der anderen Ebene hat ein göttlicher Schöpfer jeden Sänger und jede Sängerin mit einem persönlichen Stimmprofil ausgestattet, das ihn oder sie für bestimmte menschliche Musikszenarien geeignet sein lässt. Diese beiden Ebenen – die der von Menschen geschaffenen Melodien und Arrangements und die einzigartiger, von Gott geschaffenen Individualitäten – müssen zusammenwirken, um Lord Peters (und Dorothy L. Sayers') Ideal der Polyphonie hervorzubringen.
Es lohnt sich weiterzulesen.
Danke für den Text! Das ist einer meiner liebsten Sätze aus diesem Buch, den ich auch immer wieder zitiere..
AntwortenLöschenDas Buch selbst habe ich leider noch nicht gelesen, bin aber sehr gespannt darauf, denn bestellt ist es. Nur bis es bei mir ankommt dauert es wohl noch etwas.
AntwortenLöschenWelchen Satz hast Du eigentlich genau gemeint?
"Anybody can have the harmony, if they leave us the counterpoint."
AntwortenLöschenDas Buch ist u. a. eine interesante Studie über den "Tanz" zweier Menschen umeinander und auch der (damals in den 30gern) noch deutlich gestellten Frage nach der Vereinbarkeit von Ehe und intelektueller bzw. beruflicher Betätigung von Frauen. Und inwiefern die Personen, die eine Ehe eingehen, ihre Persönlichkeiten aufgeben (müssen). Oder jedenfalls ist es das, was mich als Grundidee aus dem Buch am stärksten berührt hat. Vielleicht liest es jeand anders anders ;-)
Ich habe es glaube ich mit 16 das erste Mal gelesen, und danach noch x-Mal.