"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

27. August 2010

virginitas II

Dies ist das Zweite, das in dem christlichen Entschluß zur Jungfräulichkeit mitausgesagt ist: die Bejahung der Ehe als eines natürlichen und übernatürlichen Gutes. Nicht nur sozusagen »an ihrem Orte« nämlich hat die Kirche diese Bejahung ausgesprochen, also nicht etwa nur in der Liturgie der Brautmesse und in den dogmatischen Entscheidungen über das siebente Sakrament. Sondern just im Hochgebet der Jungfrauenweihe spricht sie das Wort von der Heiligkeit der Ehe und dem auf ihr ruhenden Segen; gerade hier wird die Jungfräulichkeit ausdrücklich auf das gleiche Geheimnis bezogen, das auch in der ehelichen Gemeinschaft von Mann und Weib einbeschlossen sei.


Nur um dieses Geheimnisses der Christusverbundenheit willen, nur wegen der gänzlicheren Ungeteiltheit der Hingabe an Gott ist die Jungfräulichkeit größer als die Ehe. Daß Jungfräulichkeit – wenn sie überhaupt um eines positiven Zieles wegen übernommen wird – wirklich größere Ungeteiltheit bedeutet, bedarf keines weiteren Wortes; es ist jedermann selbstverständlich, daß Soldaten und politische Führer freier sind für ihre Aufgabe, wenn sie unvermählt bleiben.


Immerhin hat anderseits die heilige Katharina von Genua, als ein Priester ihr, der Gattin und Mutter, die höhere Heiligkeit jungfräulichen Lebens entgegenhielt, gesagt: nicht einmal das Leben inmitten eines Soldatenlagers, wieviel weniger also die Ehe, könne sie stören in ihrer Liebe zu Gott; »wenn Welt oder Gatte die Liebe hindern könnten, was wäre dann die Liebe!« – Mit diesem erfrischend unverblümten Wort hat die Heilige nicht nur den letzten und entscheidenden Wesensgrund aller Heiligkeit genannt (welcher nämlich, wie auch Thomas von Aquin lehrt, nicht die Jungfräulichkeit ist, sondern allein die Gottesliebe); sie hat sich auch mit Recht dagegen verwahrt, daß, statt Ehe und Jungfräulichkeit (in abstracto), der vermählte und der jungfräuliche Mensch (in concreto) einander in ihrem unterschiedlichen Wert gegenübergestellt werden. »Besser ist die Keuschheit der Unvermählten denn die der Vermählten; aber ich (der Unvermählte) bin nicht besser als Abraham« – so sagt Augustinus; und in seinem Buch über die Jungfräulichkeit ruft er den gottgeweihten Jungfrauen zu: »Woher weiß die Jungfrau, wiewohl sie sucht, was des Herrn ist, ob sie nicht vielleicht, auf Grund einer ihr selbst verborgenen Schwäche, doch nicht reif ist, das Blutzeugnis zu ertragen; und ob nicht jenes Weib, dem sie sich überlegen wähnt, den Kelch des Herrenleidens zu trinken vermag!«

Es gibt zwei sozusagen ewige Einwände gegen die Jungfräulichkeit: sie sei wider die Natur, und: sie widerstreite, als Schwächung der natürlichen Volkskraft, dem Gemeinwohl. Nur den, der die Weite und Schärfe dieses Geistes nicht kennt, kann es überraschen, beide Einwände in der Summa theologica des heiligen Thomas auf das präziseste formuliert zu finden.



Wichtiger aber ist die Antwort, ein Gefüge aus drei Gliedern. – Erstes Glied: Wie es natürlich ist, daß einer um der Gesundheit des Leibes willen die äußeren Güter von Geld und Besitz dahingibt, so ist es nicht wider die Natur, daß der Mensch um des geistigen und geistlichen Lebens willen verzichtet auf die Stillung der Begehrungen des Leibes. Das ist die natürliche, dem Wesen der Dinge und des Menschen gemäße Ordnung. – Wie aber ist dies: niemand würde doch um der geistigen Güter willen aufhören zu essen und zu trinken; und: heißt es nicht in der Heiligen Schrift: »Wachset und mehret euch und erfüllt die Erde!« (Gn 1, 28)?

Zweites Glied der Antwort: Es gibt zweierlei natürliches Dürfen und Müssen; eines richtet sich an das einzelne Ich, das andere richtet sich an das Wir. Essen und Trinken muß jeder einzelne Mensch. Das Gebot der Genesis aber gilt für das gesamte Wir des Menschengeschlechtes. »Im Heere bewachen die einen das Lager, andere tragen die Feldzeichen voran, und andere kämpfen mit dem Schwerte: dies alles sind Pflichten, die an die Gemeinschaft gerichtet sind, aber durch den einzelnen Menschen nicht erfüllt werden können.« Dem menschlichen Wir nun ist es vonnöten, »nicht nur, daß es durch leibliche Zeugung sich fortpflanze, sondern auch, daß es geistig-geistlich gedeihe. Und darum ist dem Wohl der menschlichen Gemeinschaft genuggetan, wenn die einen die Aufgabe der leiblichen Zeugung erfüllen, andere aber, sich jener enthaltend, ganz frei sind für die Betrachtung der göttlichen Dinge – zu des ganzen menschlichen Geschlechtes Schönheit und Heil.«

Letztes Glied im Gefüge der Antwort: »Das gemeine Wohl ist höher als das des Einzelnen, wenn beide von der gleichen Gattung sind; es kann aber sein, daß das Gut des Einzelnen seiner Gattung nach höher ist. Auf solche Weise wird die leibliche Fruchtbarkeit von der gottgeweihten Jungfräulichkeit überragt.«

Es gibt Begriffe, in denen sich, wie in einem Hohlspiegel, ein ganzes Weltbild zusammenfaßt. Es sind das zugleich Begriffe, an denen die Geister sich erkennen und scheiden. Zu ihnen gehört auch der Begriff der Jungfräulichkeit.

Nur wer die Rangordnungen anerkennt, von denen her jene dreigliedrige Antwort des heiligen Thomas gegeben ist: daß nämlich das Göttliche höher, unendlich höher als das Menschliche ist und das Geistige höher als das Leibliche – nur wer diese Rangordnungen anerkennt, und zwar, mit John Henry Newman zu reden, nicht nur »begrifflich«, sondern »real«, nur der kann auch den Sinn und das Recht und die Würde der Jungfräulichkeit begreifen.

Begriff und Wirklichkeit des gottgeweiht jungfräulichen Lebens sind aufgerichtet wie ein Zeichen der Herausforderung. An ihm wird es offenbar, ob wirklich die geistigen und geistlichen Güter den ihnen gebührenden Platz und Rang in lebendiger Geltung innehaben oder nicht. An diesem Zeichen auch wird es offenbar, ob diese Güter unter diejenigen gezählt werden, von denen und kraft deren das Wir des Volkes lebt – »zu des ganzen menschlichen Geschlechtes Schönheit und Heil«. 


Erster Teil

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