Dies gilt
auch für das im Folgenden über die Seele Gesagte, zum Beispiel, daß
sie wie mit Fittichen begabt den ganzen Kosmos durchwalte. Kurt
Hildebrandt hat mit Recht angemerkt, daß Platon hier auf die
Weltvorstellung der vorsokratischen Philosophie zurückgreife –
womit, so scheint es vielleicht, das Ganze noch weiter von uns
weggerückt wird, in eine Gedanklichkeit, die mitzuvollziehen uns
einfach nicht mehr zugemutet werden kann. Was etwa soll uns
schließlich das Fragment des Milesiers Anaximenes angehen: »Wie die
Seele, welche Luft ist, uns durchwaltet, so auch durchwaltet Atem und
Luft den ganzen Kosmos«? Ja, wenn hier von der Luft als einer
meteorologischen Erscheinung der Atmosphäre die Rede wäre, dann
ginge es uns wirklich nichts an. Aber ich werde mir niemals einreden
lassen, daß in diesem alten Text nicht zugleich, vielleicht sogar
zunächst, etwas gemeint sei, das dem gleichfalls alten Text
vom Geisthauch, der den Erdkreis erfüllt, benachbart ist: Spiritus
Domini replevit orbem terrarum (Weish 1,7). – Dies aber,
daß die Wohnung von Geist die Gesamtwirklichkeit sei, ist seit eh
und je nicht allein dem göttlichen Geiste zugesprochen
worden; wir bringen es gar nicht fertig, auch den endlichen »Geist«
anders zu verstehen und zu beschreiben denn als ein Wesen, zu dessen
Natur es gehört, im Angesicht der Gesamtwirklichkeit zu existieren.
Geist haben besagt eben dies: es zu tun haben mit allem, was
es gibt; »den ganzen Kosmos durchwohnen«.
Wer
aber dies nicht bedenkt, so sagt Sokrates im Phaidros, der
versteht nichts von dem, was in der erotischen Erschütterung
wahrhaft geschieht. Solange man nicht begriffen und »realisiert«
hat, daß der freilich ganz und gar hiesige, leibhaftige Liebende es
ist, der durch die Begegnung mit Schönheit erschüttert wird, durch
die Begegnung also mit etwas wiederum Hiesigem, Leibhaftigem,
Sinnfälligem; solange man nicht zugleich bedenkt und vor Augen hat,
daß dieser solchermaßen Erschütterte in dem, was er ist,
schlechthin hinausragt über die Dimension des Hier und Jetzt,
ungeworden und unvergänglich, mit nichts Geringerem endgültig zu
stillen als mit dem Ganzen, dem Totum an Sein,
Wahrheit, Gutheit, Schönheit – so lange ist man einfachhin
außerstande, wahrzunehmen, was eigentlich »Eros« ist; solange hat
man schlechterdings keinerlei Aussicht, der erotischen Erschütterung
auch nur auf die Spur, geschweige denn auf den Grund zu kommen. –
Vielleicht könnte einer sagen, dies sei eine »typisch platonische«
Idealisierung. Aber es ist nichts anderes als eine völlig
realistische Beschreibung dessen, was Geist wirklich ist.
Josef Pieper: Begeisterung und göttlicher Wahnsinn S. 309s
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