"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

24. Mai 2013

Erotische Erschütterung

Dies gilt auch für das im Folgenden über die Seele Gesagte, zum Beispiel, daß sie wie mit Fittichen begabt den ganzen Kosmos durchwalte. Kurt Hildebrandt hat mit Recht angemerkt, daß Platon hier auf die Weltvorstellung der vorsokratischen Philosophie zurückgreife – womit, so scheint es vielleicht, das Ganze noch weiter von uns weggerückt wird, in eine Gedanklichkeit, die mitzuvollziehen uns einfach nicht mehr zugemutet werden kann. Was etwa soll uns schließlich das Fragment des Milesiers Anaximenes angehen: »Wie die Seele, welche Luft ist, uns durchwaltet, so auch durchwaltet Atem und Luft den ganzen Kosmos«? Ja, wenn hier von der Luft als einer meteorologischen Erscheinung der Atmosphäre die Rede wäre, dann ginge es uns wirklich nichts an. Aber ich werde mir niemals einreden lassen, daß in diesem alten Text nicht zugleich, vielleicht sogar zunächst, etwas gemeint sei, das dem gleichfalls alten Text vom Geisthauch, der den Erdkreis erfüllt, benachbart ist: Spiritus Domini replevit orbem terrarum (Weish 1,7). – Dies aber, daß die Wohnung von Geist die Gesamtwirklichkeit sei, ist seit eh und je nicht allein dem göttlichen Geiste zugesprochen worden; wir bringen es gar nicht fertig, auch den endlichen »Geist« anders zu verstehen und zu beschreiben denn als ein Wesen, zu dessen Natur es gehört, im Angesicht der Gesamtwirklichkeit zu existieren. Geist haben besagt eben dies: es zu tun haben mit allem, was es gibt; »den ganzen Kosmos durchwohnen«.

Wer aber dies nicht bedenkt, so sagt Sokrates im Phaidros, der versteht nichts von dem, was in der erotischen Erschütterung wahrhaft geschieht. Solange man nicht begriffen und »realisiert« hat, daß der freilich ganz und gar hiesige, leibhaftige Liebende es ist, der durch die Begegnung mit Schönheit erschüttert wird, durch die Begegnung also mit etwas wiederum Hiesigem, Leibhaftigem, Sinnfälligem; solange man nicht zugleich bedenkt und vor Augen hat, daß dieser solchermaßen Erschütterte in dem, was er ist, schlechthin hinausragt über die Dimension des Hier und Jetzt, ungeworden und unvergänglich, mit nichts Geringerem endgültig zu stillen als mit dem Ganzen, dem Totum an Sein, Wahrheit, Gutheit, Schönheit – so lange ist man einfachhin außerstande, wahrzunehmen, was eigentlich »Eros« ist; solange hat man schlechterdings keinerlei Aussicht, der erotischen Erschütterung auch nur auf die Spur, geschweige denn auf den Grund zu kommen. – Vielleicht könnte einer sagen, dies sei eine »typisch platonische« Idealisierung. Aber es ist nichts anderes als eine völlig realistische Beschreibung dessen, was Geist wirklich ist.

Josef Pieper: Begeisterung und göttlicher Wahnsinn S. 309s

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen