"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

19. Mai 2013

Leben des Geistes (2)

Noch einmal, wann berühren wir die Welt im Ganzen? Antwort: Zum Beispiel, wenn wir die Zeichen bedenken, die uns in der Dichtung, in der Musik und in allen bildenden Künsten vor die Augen gebracht werden. Auch die Besinnung des Philosophierenden meint das Insgesamt der Welt. Vor allem aber ist die religiöse Kontemplation zu nennen, das betrachtende Sich-versenken in die Mysterien der Rede Gottes. – Dies also seien, so lautet die Auskunft, Gestalten wahrhaft geistigen Lebens – weil nur auf solche Weise das Auge der Seele sich öffne zu der äußersten ihm möglichen Empfänglichkeit, welche allein dem Ganzen der Wirklichkeit zu antworten vermag.
Es ist freilich durchaus von einem Empfangen die Rede, von Vernehmen und Schweigen und Sich-widerfahren-lassen und demnach von etwas, das nicht so völlig in unsere Verfügung gegeben ist, wie die männlichere Aktivität des weltforschenden Verstandes. Und so besagen die Namen, mit denen die Menschensprache sich das Wesen von Geist deutlich zu machen sucht, Hauch, Atem, Sturm, Quell und Flamme – alle sagen vornehmlich dies: Geist fügt sich keiner eigenmenschlich planenden Direktive; er entzieht sich der willkürlichen Verfügung; er weht, wo er will.
Natürlich meint all das nicht schon den »Geist«, den wir an Pfingsten feiern – aber immerhin ein Abbild davon. Und wie sonst könnte unser Verständnis sich dem »Heiligen Geiste« nähern, wenn nicht von seinen uns zugänglicheren Bildern her, auf dem übrigens seit je beschrittenen Wege also? Ich werde mir niemals einreden lassen, jene sehr frühe Stimme des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts, die sagt: wie der Lebenshauch in unserem Leibe das Herrschende und Erste sei, so auch werde die Welt im Großen von Hauch und Atem, vom »Pneûma«, durchwaltet – niemals werde ich die gängige These der Handbücher akzeptieren, jene Stimme meine das meteorologische Faktum von Luft und Atmosphäre, und nicht auch, in irgendeinem Sinn, den »Geist des Herrn, welcher den Erdkreis erfüllt«.
Von ihm freilich wissen die heiligen Bücher der Christenheit eine weit tiefere Auskunft zu geben: er sei nicht ein waltendes Etwas, sondern ein Jemand, personaler Geist; nicht bloßes Wehen und Wogen, sondern »Liebe« – wiederum ein Name, der eine nicht-verfügbare Gewalt bezeichnet! Und auch das wird uns gesagt: des Menschen eigener Geist vermöge sich des Ganzen der Welt nicht inniger zu versichern, als wenn er sich von dieser göttlichen Dynamis durchströmen lasse. Was nichts anderes bedeutet, als daß »Spiritualität« die äußerste Verwirklichung geistigen Lebens sei.
Wie also ist das »Fest des Geistes« zu feiern? – Auf diese Frage können, was hier nicht gut ungesagt bleiben kann, zwei Antworten gegeben werden, eine esoterische und eine exoterische. Und auch das Folgende will ausgesprochen sein: daß dies nicht der Ort ist für die esoterische Antwort, das heißt, für die im vollen Sinn christliche Antwort. Alles bisher Gesagte führt nicht weiter als bis an ihre Schwelle.
Die anfangs genannte Verlegenheit aber, die jeden von uns immer wieder einmal betroffen macht, birgt, wenn wir ihr nur nicht in eine vorschnelle Beruhigung ausweichen, eine Hoffnung in sich. Wer nämlich will sagen, wie fern oder auch wie nahe der wortlose Schmerzenslaut, in dem unsere Ratlosigkeit sich ausdrückt, jenen »unaussagbaren Seufzern« sein mag, von denen es in der Schrift heißt, sie seien das Wirken des Geistes selbst?

J. Pieper: Eine Pfingstbetrachtung (1955)

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