"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

18. Mai 2013

Leben des Geistes (1)


Immer wenn eines der großen überlieferten Feste des Jahres zu feiern ist, beschleicht uns, eingestanden oder nicht, eine gewisse Verlegenheit. Zwar sind wir zugleich versucht, uns von einem sonoren und wohlgelaunten Allerweltsoptimismus einreden zu lassen, das habe nichts weiter zu bedeuten. Dennoch bleibt ein nicht zu beschwichtigender Rest. Und es wäre in der Tat nicht gut, sich völlig beschwichtigen zu lassen und den Sachverhalt einfach zu ignorieren oder leichten Herzens über ihn hinwegzugehen.

Wer aber hier Widerstand zu leisten versucht; wer also darangeht, diese Verlegenheit ins Auge zu fassen, über sie ins reine zu kommen und sie beim Namen zu nennen, dem zeigt es sich bald, daß von zwei Dingen geredet werden müßte, die zwar miteinander zu tun haben, aber nicht identisch sind.

Erstens steht zur Rede, daß uns die unmittelbar praktische Kenntnis davon, wie überhaupt ein Fest zu feiern sei, zu entgleiten scheint. Sobald die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt herbeizuschaffen, uns nicht mehr in Pflicht nimmt, wissen wir nicht, was tun: dies sei schlichthin »die Wahrheit« – so steht es zu lesen in den Tagebüchern von André Gide. Er notiert das keineswegs klagend oder anklagend, sondern mit gelassener Aufrichtigkeit, als kühler Diagnostiker. Und wer vermöchte zu leugnen, daß seine Kennzeichnung die durchschnittliche Realität genau trifft – wie jedermann sie immer wieder einmal an sich selbst erfährt, wenn er, zum Beispiel, am Morgen eines Festtages erwacht.

Nehmen wir an, dieser Jedermann habe keinen Schlaf nachzuholen, und es gebe auch keine liegengebliebene Korrespondenz. Nein, das Einzige, das »zu tun« wäre, sei eben die Begehung des Festes, dies allein, aber gerade dies. Setzen wir ferner voraus, der Mann sei einsichtig und unbestechlich genug, sich einige ansonsten nicht ganz unübliche Ausflüchte zu verbieten; er hat sich also etwa mit sich selbst darüber verständigt, den Umtrunk, den Schmaus und die Ausfahrt ins Grüne nicht schon für ein zulängliches und eigentliches Begängnis des Festes zu halten, für ein willkommenes Beiwerk vielleicht, für ein sinnvolles Ornament, ja – aber nicht für die Sache selbst. – Was aber ist die Sache selbst? Was heißt es, einen Feiertag festlich begehen? Wie macht man das?

Jene Verlegenheit aber betrifft nicht allein das Wie von Feiern überhaupt. Vielmehr entspringt sie – zweitens – auch daraus, daß ein lebendiges Wissen vom inhaltlichen Sinn unserer großen Festtage weithin nicht mehr vorhanden ist. Was eigentlich wird gefeiert – an Weihnachten, an Ostern? Es ist letzthin durch einige Enquêten beunruhigend genug an den Tag gebracht worden, wie ratlos die durchschnittlichen Antworten sind – und welche zum mindesten absonderliche und sinistre Sache sich also zuträgt, wenn die Festtage dennoch »gehalten« werden.

Und nun gar: was wird an Pfingsten gefeiert, am »Fest des Geistes«? – Wenn wir genauer zu sagen versuchen, was eigentlich »Geist« sei, so pflegen wir zunächst den Gedanken an seine Unstofflichkeit, an das Körperlose und Nicht-Materielle zur Hand zu haben. Wohingegen die Alten den Geist vor allem verstanden haben als die Kraft, in Berührung zu kommen mit dem Insgesamt der Welt. Hierdurch, so sagen sie, sei ein geistiges Wesen ausgezeichnet: daß sein Lebensraum die Wirklichkeit im Ganzen sei. Leben des Geistes besagt demnach soviel wie: angesichts der Welt im Ganzen existieren, vis-à-vis de l’univers. Geistiges Leben im uneingeschränkten Wortverstand geschieht, heißt das, einzig da, wo das Ganze der Wirklichkeit zu Gesicht kommt – nicht die gesamte Vielfalt des Einzelnen, sondern der Sinnzusammenhang, der »inbildliche Grund« von allem, was ist.

Wann aber gerät es uns, solchermaßen das Ganze zu berühren? Nicht schon jedenfalls, wenn wir fixierenden Blickes die Verwirklichung von Zwecken betreiben, etwa die »Herbeischaffung des Lebensunterhalts« im weitesten Sinn dieses Wortes. So viel Intelligenz, Erfindungsgabe, Disziplin und Ernst hierzu natürlich vonnöten ist – keiner der großen Zeugen der abendländischen Überlieferung, nicht Platon, nicht Aristoteles, nicht Augustin, nicht Thomas würde dies schon »geistiges Leben« genannt haben (was beileibe nicht bedeutet, daß sie der Leistung des technischen Menschen ihren Respekt, ja ihre Bewunderung versagt haben würden). Die Tagebuchnotiz von André Gide weist also nicht allein auf das Unfestliche eines ausschließlich »praktischen« Lebens hin, sondern auch auf dessen gefährliche Nähe zum Ungeist. Es zeigt sich hier, mit einem Wort, daß Fest und Geist einander auf besondere Weise zugeordnet sind.
(Fortsetzung folgt bald)

J. Pieper: Eine Pfingstbetrachtung (1955)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen