"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

2. November 2013

konservativ progressiv


Die katholische Kirche ist lustfeindlich, frauenfeindlich, undemokratisch, hierarchisch unterdrückend, veraltet, romzentrisch, überhaupt institutionell«: So in etwa wird geredet, wenn die Sprache auf diese Kirche kommt ...

Vielmehr sticht zunächst bloß das eigenartige Phänomen ins Auge, dass man für solche Behauptungen keine Argumente mehr benötigt. Wer so spricht, dem wird dennoch fast in jedem beliebigen Kreis Zustimmung zuteil werden. Vor allem bei vielen kirchlichen Gruppierungen sind das inzwischen In-Bemerkungen, die sozusagen zum Gattungsbestand gehören und Totemfunktion haben. Das wird an der geradezu urtümlichen Heftigkeit deutlich, mit der geringste Abweichungen von diesem Kanon streng sanktioniert und gegebenenfalls mit Ausstoßung aus der Gruppe der Wohlmeinenden geahndet werden. Warum aber um alles in der Welt legen selbst Kirchenmitglieder auf die Einhaltung dieser Negativklischees einen so großen Wert? Masochistische Selbstbestrafungstendenzen? Doch diese Menschen machen einen ausgesprochen gesunden, geradezu berstend normalen Eindruck!

Wer nach anderen Gründen sucht, der stößt auf ein interessantes sozialpsychologisches Phänomen. Während Katholiken noch vor 40 Jahren eher genau gegenteilige Auffassungen vertraten und jeden Abweichler ausstießen - wehe, jemand sagte etwas gegen den Papst! -, ist das strenge konservative Festhalten an einem Überzeugungskodex heute unverändert, nur der Inhalt hat sich ins Gegenteil verkehrt. Da sich aber die Begriffe konservativ und progressiv unsinnigerweise über den Inhalt definieren, halten sich heutige Vertreter der oben genannten Klischees für mutige Progressive, während sie doch formal die strikt konservative Haltung ihrer Vorväter unverändert an den Tag legen. Diese unreflektierte Konservativität der »Progressiven« ist eines der Grundprobleme der heutigen Kirche. Denn die Selbstdefinition übersieht die unbewegliche und veränderungsfeindliche Starrheit der inhaltlich »progressiven« Positionen, die ganz im Trend liegen und damit keinerlei vitales Innovationspotenzial enthalten. Hierhin gehört auch die so oft festzustellende erstaunliche Intoleranz der »Toleranten«, denn wer sich selbst als tolerant definiert, läuft Gefahr, für die eigene Intoleranz blind zu werden. Wer also behauptet, das traditionelle katholische Milieu gebe es nicht mehr, der hat vielleicht in der falschen Richtung gesucht. Spätestens der gutbürgerliche Habitus dieser so genannten Progressiven verrät, dass man es hier eben keineswegs mit Umstürzlern zu tun hat.

M. Lütz: Der blockierte Riese, S. 22f

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