"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

31. August 2010

Beata Madre Teresa zum Vaticanum II



Mutter Teresa von Kalkutta, die große charismatische Missionarin, sagte mir vor wenigen Jahren:

 “ Das Konzil muß schon etwas sehr Großes gewesen sein, daß der Teufel sich so anstrengt, seinen Sinn zu verfälschen, ihn geradezu auf den Kopf zu stellen.”

(Gelesen in “Im Winter wächst das Brot” von Ida Friederike Görres, 1970, S. 118)



28. August 2010

GOTTsuche


"Ich suchte nach dem Herr, und er erhörte mich" (Ps 33,5) ... Es heißt nicht: Ich suchte Gold vom Herrn, und er erhörte mich; ich suchte hohes Alter vom Herrn, und er erhörte mich; ich suchte dies  und jenes vom Herrn, und er erhörte mich. Eines ist etwas vom Herrn suchen; ein anderes ist, ihn, den Herrn, zu suchen. "Ich suchte", heißt es, "nach dem Herrn, und er erhörte mich" ... Also wolle nicht etwas vom Herrn suchen außerhalb des Herrn, sondern den Herrn selbst suche, und er wird dich erhören.

Noch während du redest, spricht er: "Siehe, da bin ich!" Was ist das: "Siehe, da bin ich"? Siehe, vor dir bin ich! Was willst du, was suchst du von mir?  Was immer ich dir gebe: es ist geringer als ich. Mich selbst habe, mich habe zur Frucht, mich umfange! Noch kannst Du es nicht ganz: dem Glauben nach rühre mich an, und du wirst mir anhangen. Und all Deine Last werde ich von dir nehmen, daß du mir ganz anhangest, wenn ich dies dein Sterbliches zur Unsterblichkeit umwandle, daß du meinen Engeln gleich seiest und immer mein Antlitz schauest und froh seies. Und deinen Freude wird niemand von dir wegnehmen, weil du nach dem Herrn suchtest und er dich erhörte.   

Hl. Augustinus: Erklärung zu Psalm 33

27. August 2010

virginitas II

Dies ist das Zweite, das in dem christlichen Entschluß zur Jungfräulichkeit mitausgesagt ist: die Bejahung der Ehe als eines natürlichen und übernatürlichen Gutes. Nicht nur sozusagen »an ihrem Orte« nämlich hat die Kirche diese Bejahung ausgesprochen, also nicht etwa nur in der Liturgie der Brautmesse und in den dogmatischen Entscheidungen über das siebente Sakrament. Sondern just im Hochgebet der Jungfrauenweihe spricht sie das Wort von der Heiligkeit der Ehe und dem auf ihr ruhenden Segen; gerade hier wird die Jungfräulichkeit ausdrücklich auf das gleiche Geheimnis bezogen, das auch in der ehelichen Gemeinschaft von Mann und Weib einbeschlossen sei.


Nur um dieses Geheimnisses der Christusverbundenheit willen, nur wegen der gänzlicheren Ungeteiltheit der Hingabe an Gott ist die Jungfräulichkeit größer als die Ehe. Daß Jungfräulichkeit – wenn sie überhaupt um eines positiven Zieles wegen übernommen wird – wirklich größere Ungeteiltheit bedeutet, bedarf keines weiteren Wortes; es ist jedermann selbstverständlich, daß Soldaten und politische Führer freier sind für ihre Aufgabe, wenn sie unvermählt bleiben.


Immerhin hat anderseits die heilige Katharina von Genua, als ein Priester ihr, der Gattin und Mutter, die höhere Heiligkeit jungfräulichen Lebens entgegenhielt, gesagt: nicht einmal das Leben inmitten eines Soldatenlagers, wieviel weniger also die Ehe, könne sie stören in ihrer Liebe zu Gott; »wenn Welt oder Gatte die Liebe hindern könnten, was wäre dann die Liebe!« – Mit diesem erfrischend unverblümten Wort hat die Heilige nicht nur den letzten und entscheidenden Wesensgrund aller Heiligkeit genannt (welcher nämlich, wie auch Thomas von Aquin lehrt, nicht die Jungfräulichkeit ist, sondern allein die Gottesliebe); sie hat sich auch mit Recht dagegen verwahrt, daß, statt Ehe und Jungfräulichkeit (in abstracto), der vermählte und der jungfräuliche Mensch (in concreto) einander in ihrem unterschiedlichen Wert gegenübergestellt werden. »Besser ist die Keuschheit der Unvermählten denn die der Vermählten; aber ich (der Unvermählte) bin nicht besser als Abraham« – so sagt Augustinus; und in seinem Buch über die Jungfräulichkeit ruft er den gottgeweihten Jungfrauen zu: »Woher weiß die Jungfrau, wiewohl sie sucht, was des Herrn ist, ob sie nicht vielleicht, auf Grund einer ihr selbst verborgenen Schwäche, doch nicht reif ist, das Blutzeugnis zu ertragen; und ob nicht jenes Weib, dem sie sich überlegen wähnt, den Kelch des Herrenleidens zu trinken vermag!«

Es gibt zwei sozusagen ewige Einwände gegen die Jungfräulichkeit: sie sei wider die Natur, und: sie widerstreite, als Schwächung der natürlichen Volkskraft, dem Gemeinwohl. Nur den, der die Weite und Schärfe dieses Geistes nicht kennt, kann es überraschen, beide Einwände in der Summa theologica des heiligen Thomas auf das präziseste formuliert zu finden.



Wichtiger aber ist die Antwort, ein Gefüge aus drei Gliedern. – Erstes Glied: Wie es natürlich ist, daß einer um der Gesundheit des Leibes willen die äußeren Güter von Geld und Besitz dahingibt, so ist es nicht wider die Natur, daß der Mensch um des geistigen und geistlichen Lebens willen verzichtet auf die Stillung der Begehrungen des Leibes. Das ist die natürliche, dem Wesen der Dinge und des Menschen gemäße Ordnung. – Wie aber ist dies: niemand würde doch um der geistigen Güter willen aufhören zu essen und zu trinken; und: heißt es nicht in der Heiligen Schrift: »Wachset und mehret euch und erfüllt die Erde!« (Gn 1, 28)?

Zweites Glied der Antwort: Es gibt zweierlei natürliches Dürfen und Müssen; eines richtet sich an das einzelne Ich, das andere richtet sich an das Wir. Essen und Trinken muß jeder einzelne Mensch. Das Gebot der Genesis aber gilt für das gesamte Wir des Menschengeschlechtes. »Im Heere bewachen die einen das Lager, andere tragen die Feldzeichen voran, und andere kämpfen mit dem Schwerte: dies alles sind Pflichten, die an die Gemeinschaft gerichtet sind, aber durch den einzelnen Menschen nicht erfüllt werden können.« Dem menschlichen Wir nun ist es vonnöten, »nicht nur, daß es durch leibliche Zeugung sich fortpflanze, sondern auch, daß es geistig-geistlich gedeihe. Und darum ist dem Wohl der menschlichen Gemeinschaft genuggetan, wenn die einen die Aufgabe der leiblichen Zeugung erfüllen, andere aber, sich jener enthaltend, ganz frei sind für die Betrachtung der göttlichen Dinge – zu des ganzen menschlichen Geschlechtes Schönheit und Heil.«

Letztes Glied im Gefüge der Antwort: »Das gemeine Wohl ist höher als das des Einzelnen, wenn beide von der gleichen Gattung sind; es kann aber sein, daß das Gut des Einzelnen seiner Gattung nach höher ist. Auf solche Weise wird die leibliche Fruchtbarkeit von der gottgeweihten Jungfräulichkeit überragt.«

Es gibt Begriffe, in denen sich, wie in einem Hohlspiegel, ein ganzes Weltbild zusammenfaßt. Es sind das zugleich Begriffe, an denen die Geister sich erkennen und scheiden. Zu ihnen gehört auch der Begriff der Jungfräulichkeit.

Nur wer die Rangordnungen anerkennt, von denen her jene dreigliedrige Antwort des heiligen Thomas gegeben ist: daß nämlich das Göttliche höher, unendlich höher als das Menschliche ist und das Geistige höher als das Leibliche – nur wer diese Rangordnungen anerkennt, und zwar, mit John Henry Newman zu reden, nicht nur »begrifflich«, sondern »real«, nur der kann auch den Sinn und das Recht und die Würde der Jungfräulichkeit begreifen.

Begriff und Wirklichkeit des gottgeweiht jungfräulichen Lebens sind aufgerichtet wie ein Zeichen der Herausforderung. An ihm wird es offenbar, ob wirklich die geistigen und geistlichen Güter den ihnen gebührenden Platz und Rang in lebendiger Geltung innehaben oder nicht. An diesem Zeichen auch wird es offenbar, ob diese Güter unter diejenigen gezählt werden, von denen und kraft deren das Wir des Volkes lebt – »zu des ganzen menschlichen Geschlechtes Schönheit und Heil«. 


Erster Teil

26. August 2010

Interludium

Vor etwa zwei Jahren machte mich ein Bekannter auf das Buch "Mein 33. Jahr" von Pfarrer Gerhard Fittkau aufmerksam. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar. Es ist ein zugleich erschütterndes und für mich auch beschämendes Zeugnis gelebten katholischen Glaubens in Zeiten extremster Bedrängnis. Wie leicht beginnt man wegen verhältnismäßig kleinen äußeren und inneren Bedrängnissen ins Schleudern zu geraten. Ich dachte mir damals, wie viel an katholischer Glaubenssubstanz wir  bis in unserer Tage verloren haben. Für wen die Möglichkeit besteht das Buch zu lesen, sollte er diese beim Schopf packen.

" ... euch im Glauben zu stärken und aufzurichten, daß niemand im Glauben sich irremachen lasse in den gegenwärtigen Bedrängnissen. Ihr wißt ja: hierzu sind wir da."  1Thess 3,2 f


Zu Beginn meines dreiunddreißigsten Lebensjahres hatte ich die heilsamen Demütigungen sieben magerer Kaplansjahre durchlaufen und wurde selbständiger Pfarrer von Süßenberg, einer kleinen ermländischen Gemeinde in Ostpreußen. Als ich in meiner neuen Würde auf dem Kirchberg von Süßberg Einzug hielt, wurde der heitere Altweibersommer des Herbstes 1944 schon durch die Wolkenschatten verdüstert, die von Osten heraufzogen. Trotzdem war es mir noch vergönnt, einige Monate zu verkosten, was meiner lieben Großmutter als vollkommene Erfüllung klerikaler Wünsche vor Augen geschwebt hatte: eine freundliche, kernkatholische Bauerngemeinde, eine alte, gut renovierte Kirche, ein wohnliches Pfarrhaus, ein entwicklungsfähiger Garten und eine geräumige Küche, die von meiner Schwester aufs beste versorgt wurde.  Was danach geschah, ging zwar nicht über die Aussichten hinaus, die unsere geistlichen Lehrmeister uns vorgestellt hatten. Doch jene Verheißungen hatten niemals den Rahmen erbaulicher Betrachtung gesprengt, bis wir sehr real in die blutigen Fußstapfen unseres göttlichen Meisters gestoßen wurden.  Gewiß ist das, was ich mit meinen Pfarrkindern am Ende des Krieges erlebte, nichts Einzigartiges, sondern das gewöhnliche Leid ungezählter Menschen, die von den Mächten der Finsternis überfallen und durch das Tal des Todes getrieben wurden. Wenn ich trotzdem die Geschichte dieses entscheidenden Jahres meines Priestertums niederschreibe, so geschieht es nicht, um jene anzuklagen, die uns zerschlugen, noch um für meine unglücklichen Landsleute Mitleid zu erheischen. Alle sind ja aneinander schuldig geworden. Ich will vielmehr versuchen, Zeugnis anzulegen für das, was Gott der Herr und während dieses Jahres der Heimsuchung erwiesen hat, als er uns in das "Vollalter Christie" führte. 

24. August 2010

virginitas I












Im Anschluß an den letzten Text, in zwei Teile aufgeteilt nun Gedanken von Josef Pieper zur Jungfräulichkeit.  Zu finden in seinem Buch "Zucht und Maß".

Die hohe und wahrhaft fürstliche Geneigtheit, für die prächtige Versichtbarung eines erhabenen Gedankens in festlicher Feier, in Bildwerk oder Bau große Ausgaben zu machen – diese Tugend (denn es ist eine Tugend!) nannte das Mittelalter: magnificentia; wir vermögen sie heute nicht mehr mit einem einzigen Wort zu bezeichnen. Wie aber die magnificentia sich verhalte zu der ordentlichen Freigebigkeit, die im täglichen Gefüge von Bedürfen und Erbitten ihren Ort hat, so verhalte sich, sagt Thomas von Aquin, zur Keuschheit die Jungfräulichkeit.


Fast möchte man sagen, auch für diese fehle uns heute das rechte deutsche Wort. Denn der Name »Jungfräulichkeit« – abgesehen davon, daß wir es nur schwer ertragen, ihn auf den Jüngling und den Mann bezogen zu sehen – bezeichnet im Sprachgebrauch mehr den bloßen Zustand der Unberührtheit und der Unvermähltheit denn die aus Gnade und Entschluß geborene Tugend dessen, der um des Herrn willen für immer auf die Erfahrung der Geschlechtslust verzichtet hat. – Wieder drängt sich uns der Gedanke auf, solche Wortnot müsse darin ihre letzte Wurzel haben, daß die Sache selbst dem Bewußtsein nicht tief genug gegenwärtig geworden oder geblieben sei (was wiederum, ein wahrer circulus vitiosus, mit dem Mangel an lebendiger Sprachkraft, zu ergreifen und zu behalten, zusammenhängen mag). Wie dem auch sei: wenn hier in aller Kürze das Wesen der Tugend der virginitas unter dem Namen »Jungfräulichkeit« dargelegt wird, so ist es notwendig, sich jene Nicht-Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch gegenwärtig zu halten und überdies mancherlei Ungemäßheiten der Redeweise in Kauf zu nehmen.

Dies ist das erste: Jungfräulichkeit ist nicht eine Tatsache, sondern eine Tat; nicht ein Zustand, sondern eine Entscheidung. Die bloße Unberührtheit, als psychisches (erst recht als rein physisches) Faktum, ist nicht das, wodurch Jungfräulichkeit als Tugend konstituiert wird, mag auch im übrigen diese Unberührtheit der Siegespreis kämpferischer Keuschheit sein. Jungfräulichkeit als Tugend wird begründet durch den Entschluß, noch eigentlicher gesprochen durch das Gelöbnis, für immer sich der geschlechtlichen Vereinigung und der ihr zugeordneten Lust zu enthalten.

Und auch dies ist noch nicht alles. Solch ein Entschluß könnte aus vielerlei Gründen entspringen, zum Beispiel aus der widerchristlichen Auffassung, jene Enthaltung sei nichts weiter als eben eine Enthaltung vom Bösen. – Zweierlei muß noch zu dem Entschluß hinzukommen oder vielmehr in ihn eingehen und ihn ganz durchtränken.

Erstens: »Nicht weil sie Jungfräulichkeit ist, wird sie geehrt, sondern weil sie Gott geweiht ist«; nicht seiner selbst wegen ist der Entschluß, in geschlechtlicher Enthaltsamkeit zu leben, des Lobes würdig, er wird erst »lobenswert gemacht (laudabile redditur) durch seinen Zielsinn, sofern er nämlich darauf zielt, frei zu machen für die göttlichen Dinge«. Es wäre gut, wenn nicht nur der Nicht-Christ, sondern auch der Christ diese beiden klaren Sätze der größten Lehrer der Kirche, Augustins und Thomas’, stets im Gedächtnis behielte; es wäre gut, wenn er im Gedächtnis behielte, daß also eine Jungfräulichkeit, welche diesen Sinn, das Freisein für Gott und die göttlichen Dinge, nicht verwirklicht, im gleichen Maße eben sinnlos wird, jedenfalls die Würde verliert, um derentwillen sie von der Kirche geehrt wird. Gewiß kann mancherlei schicksalhafte Notwendigkeit oder auch ein sittlicher Grund einen Menschen dazu zwingen oder bewegen, unvermählt zu bleiben; und selbstverständlich kann solcher Notwendigkeit und solcher Wahl auch der Glanz eines Gott dargebrachten Opfers zuteil werden. Jede rein religiös gemeinte Wertschätzung der Unvermähltheit aber, die nicht auf jenen letzten und eigentlichen Grund – das völlige Freisein für Gott – sich stützt, rückt notwendig in die Nähe des Manichäismus, der in der bloßen Tatsache der Unvermähltheit selbst das Gute sieht – und also in der Ehe etwas Böses.


Fortsetzung

23. August 2010

Unehelicher Geburt

Da das Thema aktuell (siehe Kommentare bei Elsa) ein Zitat aus dem Buch "Primat der Liebe" von August Adam.

"Die sexuelle Frage ist unehelicher Geburt. Sie ist außerhalb der Kirche entstanden, indem durch manichäische Abwertung alles Sinnlichen und Natürlichem besonders  das Geschlechtliche aus der Harmonie des Sittlichkeitsganzen herausgerissen und verabsolutiert wurde. Der gottgewollte Zusammenhang von Leib und Seele ward in einen feindlichen Gegensatz auseinandergeprallt und so entstanden zwei Extreme, ein einseitiger Spiritualismus mit dem Scheinideal einer reinen Vergeistigung des Menschen und ein nackter Materialismus, der nur noch sie sinnliche Wertung gelten läßt." (S.71)

15. August 2010

participatio actuosa




Zum Muttergottesfest kam mir die Idee, auf eine Arbeit von Pfarrer Guido Rodheudt aufmerksam zu machen. Er schreibt über die berühmt-berüchtigte "aktive Teilnahme" am Gottesdienst unter dem Blickwinkel des klassischen Menschenbildes, wie es sich in den Schriften von Josef Pieper findet.
Vielleicht ist es eine nicht immer leichte Lektüre, jedoch kann man erkennen, wie weit der normale "manipulierte" Katholik vom schlichtweg Katholischen, abgewichen ist.



"Es ist danach deutlich, daß nicht im Reden, Handeln, Hantieren die Weise der Gottbegegnung liegen kann, nicht im Ausdruck meiner selbst, nicht im Machen, sondern im Empfangen, das zunächst das Schweigen voraussetzt, sodann das Hören und das Schauen und dann erst - in all dem - die Begegnung mit dem, was nicht aus mir ist, was ich nicht machen kann, was sich jeder Art von Produktion entzieht. Und ähnlich, wie der Betrachter eines Kunstwerks von ihm buchstäblich „hingerissen“ ist und darin - in diesem Außer-sich-sein gerade ganz bei sich selbst ist, weil er im Erkennen, im Beim-andern-sein, sein Wesen vollendet, so ist auch der Liturgiefeiernde nur dann er selbst, wenn er „bei der Sache ist“, d.h. wenn er sich nicht bei sich selbst aufhält, bei seinen Ideen, Gedanken, Plänen, sondern wenn er bei dem ist, was dort gefeiert wird - bei Gott."

3. August 2010

Anspruch der Liebe: Kontrapunktisch

In einer eindrücklichen Szene von Dorothy L. Sayers' Roman Aufruhr in Oxford haben Lord Peter Wimsey und Harriet Vane in einem Antiquitätenladen ein altes Spinett entdeckt und amüsieren sich, indem sie Bach spielen und Duette aus Madrigalen des sechzehnten Jahrhunderts singen. Bei dieser Gelegenheit, "nachdem Tenor und Alt sich zur letzten freundschaftlichen Kadenz umeinandergewunden hatten", spricht Peter einen Satz aus, der als eine der persönlichen Überzeugungen von Frau Sayers zum Thema "Liebe" gelten kann: "'Das . . . ist das wahre A und O der Musik. Harmonie kann haben, wer will, wenn er uns nur den Kontrapunkt läßt."  Das ist nicht nur ein ästhetisches Urteil. Er impliziert damit erstens, dass es Unterschiede zwischen Menschen gibt – sogar geben muss. Zweitens sagt er, dass Unterschiede, wenn sie in geeigneter Weise zur Wirkung gebracht werden, zu einem polyphonen Zusammenklang führen, der viel mehr bringt als eine simpel‐gefällige Harmonie, in der einer der Partner dominiert und der andere sich anpassen muss.

Später, gegen Ende des Romans, fragt ihn Harriet nach der Bedeutung seines Epigramms: "'Peter, was haben Sie neulich gemeint, als Sie sagten, die Harmonie könne haben, wer wolle, wenn er uns nur den Kontrapunkt lasse?'" Seine Antwort ist ein wundervolles Beispiel für Hintersinnigkeit: "'Nun, . . . daß ich polyphone Musik über alles liebe. Wenn Sie glauben, daß ich etwas anderes gemeint habe, wissen Sie auch, was.'" Er erläutert seine Haltung mit einem Hinweis auf Johann Sebastian Bach: "'Ich gebe zu, daß Bach sich nicht für einen eigenwilligen Virtuosen und einen fügsamen Begleiter eignet. Aber möchten Sie eines von beiden sein? Jetzt kommt ein Herr und möchte uns ein paar Balladen vorsingen. Bitte Ruhe für den Solisten. Aber hoffentlich ist er bald fertig, damit wir die große, erhabene Fuge hören können.'"

.Die Fuge also. Sie gibt den verschiedenen Stimmen eines Satzes jeweils dieselben Rechte und Pflichten in der Verfolgung und Behauptung der Melodieführung, in Dominanz und Begleitung. Dieses Prinzip wird hörbar in Thomas Morleys Canzonets for Two Voices, die die beiden im Antiquitätenladen singen. Peter überlässt Harriet die Wahl der Stimme: "'Welche Stimme Sie wollen – sie sind genau gleich . . . .'" Vonnöten ist ein geschickter Melodieschöpfer und Arrangeur, der diese musikalischen Linien zusammenfügt, ein Schöpfer, der die charakteristischen Eigenschaften von Stimmen, Tonarten, Harmonien und Obertönen kennt. Ganz en passant hat Peter kurz zuvor einen Gedanken eingeschmuggelt, der über menschliche Schöpferkraft hinausweist, als er mitten in "Greensleeves" abbrach und erklärte: "'Falsche Tonlage für Sie. Gott hat Sie als Alt geschaffen.'"

Der Ursprung musikalischen Zusammenklangs – dieser uralten Metapher für emotionale Übereinstimmung und Verständnis zwischen Liebenden – kann also nach Sayers auf zwei Ebenen gefunden werden. Auf der einen Ebene ist dieser Zusammenklang Ergebnis der Arbeit eines menschlichen Komponisten. Auf der anderen Ebene hat ein göttlicher Schöpfer jeden Sänger und jede Sängerin mit einem persönlichen Stimmprofil ausgestattet, das ihn oder sie für bestimmte menschliche Musikszenarien geeignet sein lässt. Diese beiden Ebenen – die der von Menschen geschaffenen Melodien und Arrangements und die einzigartiger, von Gott geschaffenen Individualitäten – müssen zusammenwirken, um Lord Peters (und Dorothy L. Sayers') Ideal der Polyphonie hervorzubringen.

Es lohnt sich weiterzulesen.