"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

11. Oktober 2010

Wie lernt der Mensch wieder sehen?



1
Die Fähigkeit des Menschen, zu sehen, ist im Niedergang – dies erfährt wieder und wieder, wer immer heute um Menschenbildung bemüht ist. Gemeint ist natürlich nicht die physiologische Empfindlichkeit des Auges. Gemeint ist das seelische Vermögen, die sichtbare Wirklichkeit so aufzufassen, wie sie wirklich ist.
Gewiß, niemals hat ein Mensch alles, was ihm sichtbar vor Augen lag, wirklich gesehen. Die Welt, auch ihr sinnfälliges Antlitz, ist unergründlich. Wer hätte je die ganze Wandlungsvielfalt im Entstehen und Vergehen einer einzigen Meereswoge sehend ausgeschöpft! – Doch gibt es Grade der Fassungskraft; und offenbar kann eine bestimmte Grenzlinie nicht überschritten werden, ohne daß der Mensch selbst als geistiges Wesen, in Gefahr gerät. Es scheint, daß diese Grenzlinie heute erreicht ist.
Ich schreibe dies, von Canada zurückkehrend, an Bord eines Schiffes, das von New York nach Rotterdam geht. Die meisten Mitreisenden haben längere Zeit in USA verbracht, viele einzig mit dem Ziel, die Neue Welt, als deren Gäste, mit eigenen Augen kennenzulernen. Mit eigenen Augen: hier steckt die Schwierigkeit.
In den mancherlei Gesprächen an Deck und bei Tisch verwundert es mich immer wieder, fast ausschließlich höchst summarische Urteile zu hören und Angaben, die sich durchweg auch in den Reiseführern finden. Es stellt sich heraus, daß kaum einer in den Straßen New Yorks die zahlreichen kleinen Schilder bemerkt hat, die auf öffentliche Luftschutzkeller hinweisen. Und wer hätte schon beim Besuch der University of New York, auf dem Vorplatz, dem Washington Square, die steinernen Schachtische wahrgenommen, welche eine fürsorgliche Gemeindeverwaltung den spielfreudigen Italienern dieses Viertels dorthin gebaut hat.
Oder: Ich hatte in der Tafelrunde von der Pracht leuchtender Meerestiere erzählt, die unser Schiff in der Bugwelle zu Hunderten heraufwirbele; anderntags berichtet man beiläufig, es sei in der vorigen Nacht nichts zu sehen gewesen: man hatte einfach nicht die Geduld gehabt, das Auge ein wenig der Dunkelheit anzupassen.
Noch einmal also: die Fähigkeit zu sehen ist im Niedergang.


2
Wer nach den Gründen fragt, kann auf mancherlei hingewiesen werden; etwa auf die inzwischen genugsam gescholtene Unruhe und Gehetztheit des zeitgenössischen Menschen oder darauf, daß er allzusehr durch praktische Zielsetzungen beherrscht und ausgefüllt sei. Es darf aber auch nicht vergessen werden: daß der Durchschnittsmensch dieser Zeit das Sehen verlernt – durch zuviel Sehen!
Es gibt einen optischen Lärm, der, nicht anders als der akustische, die deutliche Wahrnehmung unmöglich macht. Man könnte vielleicht meinen, Magazinleser und Kinobesucher würden ihr Auge schulen und schärfen. Doch ist das Gegenteil wahr. Die Alten wußten schon, wovon sie sprachen, wenn sie die »Augenlust« zerstörerisch nannten. Und eine Gesundung des inneren Auges ist heute kaum zu erwarten – es sei denn, man brächte zunächst einmal den resoluten Entschluß zustande, die von der Unterhaltungsindustrie unaufhörlich produzierte Scheinwelt leerer Reizdinge einfach aus dem Bereich des eigenen Lebens auszuschließen.
3
Man mag vielleicht einwenden: Zugegeben, daß die Fähigkeit des Sehens im Niedergang ist; aber solcherlei Verluste sind einfach der Preis jeder höheren Kultur. Wir haben zweifellos die Witterung des Indianers eingebüßt, aber wir brauchen sie auch nicht mehr, nachdem es Feldstecher, Kompaß und Radargerät gibt. Ich sagte schon: es gibt in dieser zweifellos fortschreitenden Entwicklung eine Grenze, deren Überschreitung den Menschen selbst in Gefahr bringt, in eine Gefahr, welche unmittelbar die Integrität seines eigenen Wesens bedroht, und welche darum nicht mehr mit technischen Geräten allein zu bannen ist.
Nun, die Fähigkeit, die sichtbare Welt »mit eigenen Augen« zu gewahren, gehört in der Tat zum innersten Bestand des Menschenwesens; hier steht sein eigentlicher Reichtum zur Rede – und also, im Fall der Bedrohung, seine tiefste Verarmung. Warum? Weil im Sehen die ursprüngliche und fundamentale Eroberung der Wirklichkeit anhebt, worin das Leben des Geistes wesentlich besteht.
Ich weiß sehr wohl, daß es eine Realität gibt, von der der Mensch nur durch »Hören« Kenntnis gewinnt. Es bleibt aber dennoch bestehen, daß einzig das Sehen, das Selbst-Sehen, die innere Unabhängigkeit des Menschen begründet. Wer nicht mehr mit eigenen Augen zu sehen vermag, der kann auch nicht mehr auf die rechte Weise hören. Es ist der solchermaßen verarmte Mensch, der mit Notwendigkeit dem demagogischen Zauber beliebiger Machthaber verfällt; mit Notwendigkeit: weil es für diesen Menschen nicht einmal mehr die Möglichkeit kritischer Vorbehalte gibt (worin die geradezu politische Aktualität unseres Themas deutlich wird!). 

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