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Diagnosen sind notwendig, aber sie genügen nicht. – Was also kann geschehen, was kann man tun?
Es ist schon gesprochen worden von der schlichten Enthaltung, von der einfachen Abstinenz- und Fastenkur, die uns den optischen Lärm der Tagesnichtigkeiten vom Leibe halten soll. Dies Verfahren scheint mir in der Tat eine unentbehrliche Vorübung zu sein, aber doch nur so etwas wie das Wegräumen eines Hindernisses.
Eine viel unmittelbarer wirkende Arznei ist: daß der Mensch selber bildend und werkend anschauliche Gestalt hervorbringe.
Niemandes Auge muß so viel von dem sichtbaren Geheimnis eines Menschenantlitzes gesehen haben, wie wer es in anschaubarer Gestalt nachzubilden unternimmt. Doch gilt dies nicht allein für das mit der Hand werkende Bilden. Auch das sprachliche »Bildwerk« gedeiht nur auf dem Grunde einer höheren Kraft des Sehens; welche Intensität des Anschauens war etwa gefordert, damit gesagt werden konnte: »Die Augen des Mädchens glänzten wie nasse Johannisbeeren« (Tolstoi).
Weil also Bilden auf Sehen beruht, darum zwingt schon der bloße Versuch bildnerischer Gestaltung zu einer neuen Zuwendung zur sichtbaren Welt; er nötigt zum selbsteigenen Sehen. Und lange vor dem Gelingen eines Werkes wird dem Bildenden eine andere, innere Frucht zuteil: tiefere Offenheit des Auges, wachere Eindringlichkeit, höhere Präzision im Auffassen, geduldigere Empfänglichkeit für das Unscheinbare, Gewahrung des bis dahin anscheinend gar nicht Vorhandenen. Mit einem Wort: er wird des Reichtums der sichtbaren Welt nicht nur ganz neu ansichtig; sondern ihm wächst, wie auf eine Herausforderung hin, die selbsteigene Kraft, diese ungeheure Ernte in sich zu bergen. Es wächst die Kraft des Sehens.
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Man hat es schon manchmal ausgesprochen: der noch immer und wieder stärker gebräuchlichen dilettantischen Musik-Übung in der Familie und in den Gemeinschaften der Jugend – diesem Brauch im Felde der Musik entspreche seltsamerweise nicht etwas Ähnliches im Bereich der bildenden Künste – wodurch es sich auch erklären mag, daß die moderne Musik eine viel kräftigere und breitere Resonanz im Volke hat als die moderne Malerei oder Plastik. Es zeigt sich hier, daß es diese dilettantisch tätige Schicht von Liebhabern ist, die das künstlerische Leben einer Stadt und also auch die Existenz des eigentlichen Künstlers in Wahrheit trägt. Und wenn jetzt mancherlei Bemühung darauf zielt, in »Werkschulen«, in Schulen der bildnerischen Gestaltung auch auf diesem Felde eine Schicht tätiger Liebhaber heranzubilden, so muß man sehen, daß es sich dabei nicht um ein isoliert gedachtes »Kunstleben« handelt. Es geht darum, wie der Mensch davor bewahrt werden könne, ein bloßer Konsument von Kollektivpräparaten und ein höriger Befolger von Manager-Direktiven zu werden. Die Frage ist, wie der Mensch das Fundament seines geistigen Lebens und seine unmittelbare Beziehung zur Realität ungeschwächt erhalten könne: die Fähigkeit nämlich, mit seinen eigenen Augen zu sehen.
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