"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

12. November 2010

Wenn nur «X» sich ändern würde! Teil 2

Ich sagte also: Wenn wir sehen, wie alle unsere Pläne an unseren schwierigen Mitmenschen scheitern, so können wir «in einem gewissen Sinne» nachfühlen, wie es erst für Gott sein muß. Aber nur in einem gewissen Sinne. In zweierlei Hinsicht muß Gottes Perspektive von der unseren sehr verschieden sein. Zum ersten: Er sieht (wie du), daß all die Menschen bei dir zu Hause oder an deinem Arbeitsplatz mehr oder weniger unangenehm oder schwierig sind; aber wenn er in diese Familie, in diese Fabrik oder in dieses Büro hineinschaut, so sieht er dort noch einen Menschen mehr vom gleichen Schlag - den einen, den du nie siehst. Und dieser eine bist du!
Das ist der nächste große Schritt zur Lösung deines Problems: zu erkennen, daß auch du selbst genau die gleiche Sorte Mensch bist. Auch du hast verhängnisvolle Eigenschaften. Alle Hoffnungen und Pläne anderer sind immer wieder an deiner Wesensart gescheitert, genauso wie deine Hoffnungen und Pläne an der ihren.
Es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns schnell mit irgendeinem unbestimmten, allgemeinen Eingeständnis über diese Tatsache hinwegsetzen, wie: «Natürlich habe ich auch meine Fehler; wer hat das schon nicht!» Es ist wichtig, daß du das einmal ganz ernst nimmst: Auch du hast wahrhaft verhängnisvolle Eigenschaften, dunkle Punkte in deinem Wesen, die bei anderen genau dasselbe Gefühl verzweifelter Ohnmacht hervorrufen, das du selbst wegen ihrer Fehler so gut kennst. Und fast mit Sicherheit sind das Dinge, von denen du nichts weißt. Du hast sozusagen einen üblen Mundgeruch: alle merken ihn, nur du selbst nicht.
«Aber warum», fragst du, «sagen mir das die anderen denn nicht?» Glaube mir, andere haben oft genug versucht, es dir zu sagen, aber du konntest es einfach nicht fassen. Vielleicht ist eine ganze Menge von dem, was du ihre «Nörgelei» oder «schlechte Laune» oder «Unverträglichkeit» nennst, nichts anderes als ihr Versuch, dir die Wahrheit beizubringen. Und selbst die Fehler, um die du weißt, nimmst du meistens viel zu leicht. Du sagst: «Ich gebe zu, daß ich mich gestern abend gehenließ -- ich war einfach wütend», aber die anderen wissen, daß das bei dir an der Tagesordnung ist, weil du ein jähzorniger Mensch bist. Du sagst: «Ich gebe zu, daß ich am letzten Samstag zu viel getrunken habe», aber jedermann weiß, daß du ein Gewohnheitstrinker bist.
Das ist das eine, worin sich Gottes Sicht offenbar von der meinen unterscheidet: Er sieht all die schwierigen Charaktere; ich sehe alle - außer meinem eigenen. Aber es gibt noch ein zweites: Er liebt die Menschen trotz ihrer Fehler. Er hört nicht auf, sie zu lieben. Er gibt sie nicht auf. Sage nicht: «Das ist für ihn kein Problem; er muß ja nicht mit ihnen zusammenleben!» Doch, das muß er! Nicht nur äußerlich lebt er mit ihnen zusammen, sondern er wohnt sogar in ihrem Innern. Er hat sich viel inniger und enger und unablässiger mit ihnen verbunden, als wir es je könnten. Jeder böse Gedanke in ihrem Inneren (und in unserem), jede Regung von Haß, Neid, Überheblichkeit, Habgier und Eitelkeit stößt unmittelbar auf seine geduldige, ausharrende Liebe und bekümmert seinen Geist noch viel mehr als unseren.
Wenn wir in diesen zwei Dingen Gott zum Vorbild nehmen, dann wird sich unser Leben nach und nach verändern: Wir werden «X» immer mehr lieben; und wir werden einsehen, daß wir kein Haar besser sind als er. Manche Leute sagen, es sei krankhaft, immer an seine eigenen Fehler zu denken. Das wäre schön und gut - wenn wir nur damit aufhören könnten, ohne unsere Gedanken sofort an die Fehler der anderen zu hängen. Doch die meisten von uns können das nicht. Nein, wir genießen es geradezu, über die Fehler anderer Leute nachzudenken; und das ist im wahrsten Sinne des Wortes «krankhaft»: Es ist das morbideste Vergnügen der Welt.
Wir schätzen es im allgemeinen nicht, wenn uns Einschränkungen auferlegt werden. Aber eine Einschränkung sollte jeder von uns sich selbst auferlegen: Verzichte auf alles Nachdenken über die Fehler anderer Leute, es sei denn deine Pflichten als Lehrer oder als Vater oder Mutter erfordern es. Wenn immer solche Gedanken unnötigerweise in dir hochsteigen - warum stellst du sie nicht einfach ab und denkst statt dessen über deine eigenen Fehler nach? Denn an diesem Punkt kannst du, mit Gottes Hilfe, etwas ändern. Unter all den schwierigen Menschen bei dir zu Hause oder am Arbeitplatz gibt es nur einen einzigen, den du wirklich ändern kannst. Bei dem mußt du ansetzen. Und fang lieber heute schon damit an! Irgendwann muß diese Aufgabe doch einmal angegangen werden, und je länger du damit wartest, umso schwieriger wird es.
Weißt du, worum es letztlich geht? - Du siehst nun, daß nichts, nicht einmal Gott mit all seiner Macht, aus «X» einen wirklich glücklichen Menschen machen kann, solange «X» selbst neidisch, ichbezogen und boshaft bleiben will. Und du kannst sicher sein: Es gibt auch bei dir Dinge, die dich in Ewigkeit unglücklich machen, und nicht einmal Gott selbst kann dich davor bewahren, wenn sich bei dir nichts ändert. Solange du diesen Dingen Raum läßt, gibt es für dich genausowenig einen Himmel, wie es süße Düfte gibt für einen Mann mit einem Schnupfen oder Musik für einen Gehörlosen. Nicht daß Gott einen Menschen «in die Hölle schickt». Nein, im Herzen eines jeden von uns wächst etwas heran, das ganz von selbst unsere Hölle wird - wenn wir nicht zulassen, daß es mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird. Das ist eine ernste Sache: Darum wollen wir uns doch gleich jetzt in Gottes Hand geben, heute noch, in dieser Stunde.


Teil 1

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