Der Hörende (Skulptur von Toni Zenz) |
Der Horizont des Begriffes »Schweigen« hat erstaunliche Ausmessungen. Man begegnet ihm nicht allein in den Lebenslehren der Weisen. Auch in der Geschichte der Weltdeutung hat er einen denkwürdigen Platz. So reicht seine Erstreckung von der Kosmogonie der hellenistischen Gnostiker, denen die Zweieinheit des »Unnennbaren« und des »Schweigens« als der ungezeugte Seinsgrund der Welt galt, über die mystisch-asketischen Schweigegebote des Pythagoras und der Mönchsorden des Ostens wie des Westens bis hin zu der so anmutigen wie tiefsinnigen Courtoisie, mit der, in Shakespeares Tragödie, Coriolan sein Weib Virgilia begrüßt: »Mein lieblich Schweigen, Heil!« (1943)
Es ist eines, sich kraft willentlicher Setzung des Wortes zu enthalten; ein anderes ist, nicht reden zu können, weil es einem die Sprache verschlägt. Das Schweigen der ersten Art ist ein im strengen Sinne menschliches Schweigen; wie auch das Wort, die Fassung des Sinnes im lautenden Hauch, dem innersten Bereich des eigentlich Menschlichen zugehörig ist. Wo die Kraft zum Wort erlischt, da tritt der Mensch an die Grenze seines Daseins. Es kann dies die Grenze nach unten sein, aber auch die Grenze nach oben. Solches Versagen der Wortkraft aber mag nicht so sehr ein eigentliches Schweigen als vielmehr ein Stummwerden heißen.
Auf einer Fahrt durch Island schrieb mir eine gastliche Freundin ins Wanderbuch den nordländischen Spruch: Tiefstes Leid und höchste Freude gehen wortlos über die Erde.
Es gibt physische und seelische Schmerzen, die den Menschen im gleichen Maße verstummen machen, wie sie ihn, sozusagen entmächtigt, aus seiner eigenen Natur verweisen. Der todkranke Rilke notierte: »Le chien malade est encore chien, toujours. Nous, à partir d’un certain degré de souffrances insensées, sommes-nous encore nous?« Und der bekannte Goethe-Vers, gibt er nicht vornehmlich dies zu bedenken: daß ein Gott es ist, der dem in seiner Qual verstummten Menschen die Sprache, wie ein Ungeschuldetes, verleiht?
Aber nicht allein wenn wir unter die Schwelle unseres Wesens hinabgezwungen, sondern auch wenn wir über unser Vermögen hinausgehoben werden – verlieren wir die Sprache.
Wer als sterblicher Mensch in das Licht des Göttlichen tritt, wird geblendet, so daß, wie Finsternis und übergroße Helligkeit dem Auge das gleiche bedeuten, auch die Überfülle des Sagbaren unsagbar wird.
Der Herzbereich menschlichen Seins, der bebaute Acker von Wort und Sprache, grenzt also, rechts wie links, an die Wortlosigkeit: an das Verstummen der unmündigen Kreatur und an das Verstummen des Mystikers. Nach unten aber, in die Tiefe, treibt die Rede ihre Wurzeln in das nährende Erdreich des Schweigens. (1943)
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