"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

22. September 2010

Objektive moralische Prinzipien

Bei all dem geht es um folgende zentrale Frage: Wo finden wir die ethische Grundlage für politische Entscheidungen? Die katholische Lehrtradition sagt, daß die objektiven Normen für rechtes Handeln der Vernunft zugänglich sind, ohne daß dazu ein Rückgriff auf die Inhalte der Offenbarung nötig wäre. Dementsprechend besteht die Rolle der Religion in der politischen Debatte nicht so sehr darin, diese Normen zu liefern, als ob sie von Nichtgläubigen nicht erkannt werden könnten. Noch weniger geht es darum, konkrete politische Lösungen vorzuschlagen, was gänzlich außerhalb der Kompetenz der Religion liegt. Es geht vielmehr darum, auf der Suche nach objektiven moralischen Prinzipien zur Reinigung und zur Erhellung der Vernunftanstrengung beizutragen. Diese „korrigierende“ Rolle der Religion gegenüber der Vernunft ist nicht immer willkommen, unter anderem weil entstellte Formen der Religion wie Sektierertum und Fundamentalismus sich selbst als Ursachen schwerer gesellschaftlicher Probleme erweisen können. Diese Verzerrungen der Religion treten ihrerseits dann auf, wenn der reinigenden und strukturierenden Rolle der Vernunft im Bereich der Religion zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es ist also ein Prozeß in beide Richtungen. Ohne die Korrekturfunktion der Religion kann jedoch auch die Vernunft den Gefahren einer Verzerrung anheimfallen, wenn sie zum Beispiel von Ideologien manipuliert wird oder auf einseitige Weise zur Anwendung kommt, ohne die Würde der menschlichen Person voll zu berücksichtigen. Ein solcher Mißbrauch der Vernunft war es ja auch, der den Sklavenhandel und viele andere gesellschaftliche Übel erst ermöglicht hat, nicht zuletzt die totalitären Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts. Darum würde ich sagen, daß die Welt der Vernunft und die Welt des Glaubens – die Welt der säkularen Rationalität und die Welt religiöser Gläubigkeit – einander brauchen und keine Angst davor haben sollten, zum Wohl unserer Zivilisation in einen tiefen und andauernden Dialog zu treten.

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