"Minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio, quae habetur de minimis rebus."

"Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen"

(Thomas von Aquin: I, 1, 5 ad 1)

1. September 2010

rosa mystica

Eigentlich sollte zum Beginn des Schutzengelmonats an dieser Stelle an diese unsere Wegbegleiter erinnert werden, soweit überhaupt notwendig. Leider habe ich es nicht mehr geschafft. Deshalb, an "virginitas II" anschließend, diesen abschließenden  Text zum Themas aus Piepers "Zucht und Maß", welcher schon  in der Schublade lag - so zu sagen.


Zucht wirkt Reinigung.
Wenn man sich durch dieses merkwürdigerweise nur selten betretene Tor dem so schwer zugänglichen Begriff der Reinheit nähert und Reinheit also versteht als die Frucht von Reinigung – dann verstummen die verwirrenden und mißtönenden Beiklänge, die sonst diesen Begriff zuzudecken und dem Manichäismus anzunähern drohen (das deutsche Wort »Ketzer«, das aus dem griechischen »kátharoi« – »die Reinen« – sich herleitet, enthält eine gewichtige Warnung). Von jener Sicht her kommt der volle und uneingeschränkte, gegen den landläufigen also durchaus unterschiedene Begriff der Reinheit in den Blick.
Sie ist gemeint, wenn in der Väterlehre des Johannes Cassianus die Reinheit des Herzens der innewohnende Sinn der Zucht genannt wird: »dazu dienen Einsamkeit, Fasten, Nachtwachen, Kasteiungen«. Auf diesen weiträumigeren Begriff der Reinheit hin ist das Wort des heiligen Augustinus zu verstehen: die Tugend der Zucht und des Maßes ziele dahin, den Menschen unversehrt und unangetastet zu bewahren für Gott. Was aber besagt der uneingeschränkte Begriff der Reinheit?
Er besagt jene kristallische, morgendliche Unbefangenheit und Selbstlosigkeit des Weltverhältnisses, wie sie im Menschen Wirklichkeit wird, wenn die Erschütterung eines tiefen Schmerzes ihn an die Grenzen des Daseins trägt oder wenn die Nähe des Todes ihn anrührt. In der Heiligen Schrift ist gesagt: »Schwere Krankheit macht nüchtern die Seele« (Sir 31, 2); diese Nüchternheit gehört mit zum Wesen der Reinheit. In die gleiche Richtung deutet der umstrittenste aller Sätze des Aristoteles: die Tragödie wirke Reinigung, »κάϑαρσις«.
Auch das donum timoris, das Geistgeschenk der Furcht, das Thomas der temperantia zuordnet, reinigt, als die gnadenvolle Erfahrung der innersten Gefährdung des Menschen, das Gemüt und hat jene Reinheit zur Frucht, kraft deren einer darauf verzichtet, selbstisch nach erschlichenen vermeintlichen Erfüllungen zu suchen. Reinheit ist die vorbehaltlose Geöffnetheit des ganzen Wesens, aus der allein das Wort gesprochen werden konnte: »Siehe, ich bin die Magd des Herrn« (Lk 1, 38). 


Diese höchste Verwirklichung der Reinheit ist in einem Gedicht von Konrad Weiß in ein Bild von makelloser Schönheit und strahlender Gültigkeit gefaßt worden: »Kummerlos steht die im Hoffen / Unerschrockne Rose offen.«
Es tut sich hier dem Blick eine neue Tiefe auf: daß nämlich Reinheit nicht nur die Frucht von Reinigung ist, sondern daß sie zugleich auch die Bereitschaft in sich schließt, Gottes Reinigungen, furchtbar vielleicht und tödlich, mit der kühnen Offenheit eines vertrauenden Herzens anzunehmen und so ihre fruchtende und verwandelnde Kraft zu erfahren.
Das aber ist der letzte Sinn der Tugend der Zucht und des Maßes. 

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